„Wisse, dass die Samenflüssigkeit der Mond ist und die Flüssigkeiten und das Blut in der Vagina die Sonne. Es ist notwendig, diese beiden Flüssigkeiten im eigenen Körper zu vereinigen.“ (Shiva-Samhita“, Kap. IV, Vers 86 – 90).  Über Liebe, Sex und Yoga.

 

Unser ganzes Dasein ist ein energetischer Prozess von Bewegung und Wandlung, basierend auf der im Universum wirkenden bipolaren Grundkraft, die wir als die schöpferische Macht der Sexualität erfahren. Unsere ganze psychophysische Existenz beruht auf der Sexualkraft, und unsere Probleme, Hindernisse, Fortschritte, Freuden und Leiden hängen ganz vom Fluss dieser Energie ab. Was Sigmund Freud in unser Bewusstsein brachte, war den alten Yogis seit frühester Zeit bekannt, und die indischen Weisen und Seher offenbarten dem im Netz der Dualitäten zappelnden Menschen das Yoga-System, um über die Arbeit an Körper und Geist Kontrolle über den gewaltigen Fluss dieser Energie zu erlangen und dadurch eine Basis für Liebe, Freiheit und Selbstverwirklichung zu schaffen.
Die Yoga-Wissenschaft sagt, dass das Wesen sexueller Potenz alle Bereiche und Ebenen unserer Persönlichkeit berührt und so Charakter und Schicksal formt. Sie meint damit nicht nur ein physisches Phänomen, sondern die göttliche Schöpferkraft in uns selbst, mit der wir unser Leben gestalten und täglich Innen- und Außenwelt kreieren. Den alten Yogis zufolge ist eine gesunde, kraftvolle Sexualkraft die Voraussetzung für geistiges und seelisches Wachstum. Yoga lehrt deshalb Techniken, diese Kraft zu heilen, zu fördern, zu vervollkommnen und unter die Kontrolle des Geistes zu bringen.

 

Verbindung mit der Urkraft

Hatha-Yoga hat primär zum Ziel, den entwurzelten Menschen wieder ganz mit der sexuellen Urkraft zu verbinden. Dieser archaische, durch und durch tantrische Yoga sagt, dass durch die Arbeit am Körper die innere und äußere Welt transfomiert werden kann. Dazu muss der Körper von karmischen Verunreinigungen gesäubert werden, und hierzu bedarf es eines Schlüssels mit mystisch-magischer Potenz. Die Yogis sagen, dass dies die Sexualkraft ist, und zwar im besonderen die durch sie bei Mann und Frau gebildeten lebensspendenden sexuellen Flüssigkeiten. Männliches Sperma, „Bindu“, und das weibliche Äquivalent „Rajas“, das Menstruationsblut, gelten ihnen als die edelsten Substanzen im menschlichen Körper, und ihrer Bewahrung und rechten Verwendung wird größter Wert beigemessen. Der Verlust von „Bindu“ gilt unter Adepten als größtes Hindernis für spirituelle Verwirklichung. Ein Yogi heißt demzufolge „Urdhva-Retas“, d.h. einer, der seinen Samen aufwärts fließen lässt. Findet Geschlechtsverkehr statt, der von echten Yogis nicht als etwas Verwerfliches, sondern als Mittel zur Bewusstseinserweiterung angesehen wird, muss der Yogi die Ejakulation vollkommen beherrschen können. Dies geschieht durch schrittweise Aktivierung und Kontrolle von Energiekanälen, sog. Nadis, die den Körper durchziehen. Durch diese Zurückhaltung der gewaltigsten Energie im Menschen werden latente Kräfte geweckt und sublimiert, was sich in der Bildung von „Ojas“, einer vitalen, heißen Energie im Körper, manifestiert. Genauso verhält es sich mit dem während des weiblichen Menstruations-Zyklus angesammelten Blut, das durchdrungen von Prana ist. Diese kostbare Flüssigkeit ist der „weibliche Same“, den die Yogini zusammen mit anderen Vaginal-Sekreten dem Körper zu erhalten sucht.

 

Yoga und die biologische Uhr

Mit der Pubertät beginnt der menschliche Körper Sexualsekrete zu bilden, der natürlichen Veranlagung aller Lebewesen entsprechend, neues Leben zu bilden. Diese setzen sich aus den wertvollsten Bestandteilen von Blut, Knochenmark und Gehirn zusammen, und um sie herzustellen, muss der Körper Raubbau an der eigenen Substanz betreiben. Mit dem ersten Samenerguss oder der ersten Menstruation setzt die Degeneration des menschlichen Körpers ein, in dem bis dahin die latente Sexualkraft als aufbauender Faktor wirksam war und die lebensspendende Funktion gewisser Sekrete verwendet wurde, um die körpereigenen Zellen zum Wachsen zu bringen. Diese Sekrete sind verantwortlich für das Ticken unserer biologischen Uhr, und indem die Yogis sich gegen diesen natürlichen Vorgang des Verlustes von Lebensenergie wehren, vermögen sie sich über die grundlegenden Gesetzmäßigkeiten der urtümlichen, primitiven Natur emporzuschwingen und aus dem Kreislauf von Werden und Vergehen auszubrechen.

 

Sexualkraft und spirituelle Energie

Die Sexualkraft ist die stärkste Kraft im ganzen Universum, sie ist Gott in kreativer und destruktiver Form. Eine so gewaltige Kraft zurückhalten und beherrschen zu wollen, ist eine nicht ungefährliche Angelegenheit, denn sie birgt nicht nur göttliche, sondern auch dämonische Aspekte. Dies zeigt sich leider oft in orthodoxen Kreisen, die ein Zölibat predigen, ohne über praktische Methoden zu verfügen, die Sexualkraft gefahrlos in spirituelle Energie umzusetzen. Yoga lehrt, dass die Zurückhaltung der Sexualkraft mit einer Läuterung und Säuberung des eigenen Wesens und insbesondere des Körpers einhergehen muss. Zu diesem Zweck wurde das geniale System des Hatha-Yoga mit all seinen subtil wirkenden Kriyas, Asanas, Pranayamas, Mudras und Bandhas entwickelt, damit eine gefahrlose Sublimierung dieser gewaltigen Urkraft möglich ist.

Hinterlasse einen öffentlichen Kommentar

Deine Email Adresse wird nicht veröffentlicht.

*