Götz Eisenberg kritisiert den Digitalpakt für Schulen.

Ende 2018 wurde der „Digitalpakt für Schulen“ beschlossen. Mit den Stimmen von CDU, SPD, den Grünen und der FDP soll das Grundgesetz geändert werden, um dem Bund eine Beteiligung an Bildungskosten zu ermöglichen, für die bislang ausschließlich die Bundesländer zuständig waren. Fünf Milliarden Euro sollen in den nächsten Jahren in die digitale Ausstattung der Schulen investiert werden. Das Geld soll in die Internetversorgung der Schulen, in WLAN, Server, Laptops, Tablets und interaktive Tafeln fließen. „Heute ist ein guter Tag für Schüler, Eltern und Lehrer in Deutschland“, sagte Bildungsministerin Karliczek von der CDU. Es ist vor allem ein guter Tag für die Firmen, die die Geräte herstellen. Es ist ein Fünf-Milliarden-Geschenk für die Industrie.

Vorläufig, denn es werden natürlich weitere Milliarden folgen – schließlich veralten die Geräte, müssen gewartet und erneuert werden. Die Süddeutsche Zeitung lässt einen gewissen Paul Munzinger kommentieren, der Digitalpakt sei ein Erfolg für den „Bildungsstandort Deutschland“. Endlich könne das Geld dorthin fließen, wo es gebraucht wird: in „Schulen, in denen es oft noch immer aussieht wie im vorigen Jahrtausend.“ Es genügt nicht zu sagen „wie im vorigen Jahrhundert“, nein es muss gleich das vorige Jahrtausend sein, um deutlich zu machen, wie skandalös die Zustände an deutschen Schulen angeblich sind. Wäre es wirklich skandalös, wenn auf Tischen und Bänken Bücher herumlägen, mit Kreide an Tafeln geschrieben würde und Schüler und Lehrer einfach so miteinander reden würden?

Fit für die digitale Welt von morgen

All jenen, die ständig davon reden, Schulen hätten Schülern „Medienkompetenz“ zu vermitteln und sie „fit zu machen“ für die digitale Welt von morgen, sei noch einmal nachdrücklich gesagt: Die Fähigkeit, von den digitalen Medien sinnvoll Gebrauch zu machen (wenn es einen solchen denn überhaupt gibt), erwirbt man nicht im Internet oder beim Wischen über Tablets und Smartphones. Denken lernt man im direkten Umgang und Austausch mit leibhaftig anwesenden Menschen, beim Lesen und der gemeinsamen Aneignung des Gelesenen. Denken heißt Zusammenhänge herstellen, das Gegebene kritisch hinterfragen, Urteilsvermögen entwickeln, Distanz einzuhalten zu dem, was sich vor uns so kompakt und scheinbar alternativlos als Wirklichkeit aufspreizt. Also: Die beste Vorbereitung auf den Umgang mit digitalen Medien ist die tüftelnde Versenkung in Bücher und Texte. Bildung hieß einmal: Erwerb von Mündigkeit und kritischer Urteilsfähigkeit – das heißt, der Fähigkeit, sich seines Verstandes ohne Anleitung durch andere zu bedienen –, Formung des Menschen im Lichte von Aufklärung und Vernunft. Die „Kritische Theorie“* hat früh auf den Unterschied zwischen „Information“ und wirklicher „Erkenntnis“ hingewiesen.

Bloße Informationen helfen nicht weiter beim Erkennen der Wahrheit. Sie bleiben an der Oberfläche, wo sie ungeordnet, ohne in Zusammenhänge eingeordnet zu werden, rotieren. Sie werden erst dann zu „Erfahrung“, wenn sie den Durchgang durch einen Verarbeitungsprozess antreten und einer komplexen Aneignung unterliegen.

Frontalangriff auf das autonome Denken

Die Instanz, die diesen Einordnungsprozess im Innern des Subjekts organisiert, ist das Ich. Mündigkeit, Bildung, Ich, Individuum sind wie zu einem Zopf verflochten, von ihrer wie immer prekären gesellschaftlichen Realität hängt die Möglichkeit von Aufklärung, Vernunft und Demokratie ab. All diese menschlichen Vermögen stehen gegenwärtig auf dem Spiel. Die digitale Welt, wie sie im Dienst großer weltumspannender Konzerne und deren Profitinteressen auf uns zukommt, ist ein Frontalangriff auf unsere Erfahrungsfähigkeit, den Wirklichkeitssinn und das autonome Denken. Einer der Pioniere der sogenannten „künstlichen Intelligenz“, der Google-Mann Ray Kurzweil**, verkündete unlängst, die Menschheit stehe an der Schwelle eines Evolutionssprungs, an dem sich Natur und Technik zu einer Einheit verbinden: „Das menschliche Gehirn wird einen digitalen Neocortex entwickeln, also einen neuen Teil der Großhirnrinde, der sich über eine Schnittstelle mit einer digitalen Wolke künstlicher Intelligenz verbindet, aus der sämtliche Daten und Informationen des Weltwissens abrufbar sind.“ Und weiter: „In den 2030er Jahren werden wir uns mit der intelligenten Technologie vereinen, die wir erschaffen.“ Das ist keine Utopie, das ist eine Dystopie!***

Es ist nicht die Vollendung des Menschen, es ist seine Abschaffung zugunsten des „kybernetischen Menschen“, von dem schon bei Henri Lefebvre die Rede war. Pointiert heißt es in der „Dialektik der Aufklärung“: „Die Eliminierung der Qualitäten, ihre Umrechnung in Funktionen, überträgt sich von der Wissenschaft vermöge der rationalisierten Arbeitsweisen auf die Erfahrungswelt der Völker und ähnelt sie tendenziell wieder den Lurchen an.“ Lurche und digitale Fellachen brauchen zu ihrem Funktionieren weder ein Ich, noch Bildung, noch eine geprägte Persönlichkeit und Moral. Im Gegenteil: All das schmälert ihre Fungibilität**** und allseitige Kompatibilität.

Es schadet dem Fortkommen und der Karriere. Menschen benötigen, wenn sie zu menschlichen Menschen werden sollen, den Kontakt und die Berührung mit der sinnlichen Dichte der Welt – und nicht nur mit Algorithmen.

Schulen: Zulieferbetriebe für die Industrie

Der Grundfehler besteht darin, dass die Schulen als Zulieferbetriebe für die Industrie begriffen und konzipiert werden. Wenn das ihre Aufgabe sein soll, ist es nur konsequent, den Digitalpakt zu schließen und der Industrie die Digital-Idioten anzuliefern, die sie benötigt. Idioten (idiotés) waren im klassischen Griechenland Menschen, die ungebildet und unpolitisch waren, keinen Begriff vom Gemeinwohl hatten und sich nicht um politische Zusammenhänge kümmerten. In ironischer Anlehnung an den Begriff der digital natives***** wird man also davon sprechen können, dass die Digitalisierung digital idiots produziert. Warum bildet die Industrie die Leute, die ja ohnehin nichts mehr zu sein scheinen als stromlinienförmig angepasste, gut funktionierende Arbeitswesen, nicht gleich selbst in firmeneigenen Schulen aus?

Es war ja gerade der Sinn der allgemeinbildenden staatlichen Schulen, die Bildung und Ausbildung der nachwachsenden Generationen dem Zugriff der bornierten Interessen des Einzelkapitals zumindest ein Stück weit zu entziehen und darauf zu achten, dass nicht nur kurzfristige Profitinteressen die Bildungsinhalte bestimmen. Ist das Surfen im Internet wirklich wichtiger als die Lektüre eines Romans, das Erlernen eines Gedichtes? Darüber müsste eine demokratische Gesellschaft diskutieren: Wollen wir, dass Schulen Kinder und Jugendliche zu verwert- und brauchbaren Arbeitskräften machen, oder sollen sie sich der Entwicklung der ganzen Bandbreite ihrer Fähigkeiten widmen? Bildung war immer mehr und etwas anderes als Ausbildung. Wahrhafte Bildung hat stets einen subversiven Anteil und birgt immer Gefahren für die jeweilige Form der Herrschaft. Man lernt, die herrschende Gestalt der Wirklichkeit an ihren besseren Möglichkeiten zu messen und partikulare von allgemeinen Interessen zu unterscheiden. Und die Ausbildung dieser Fähigkeit ist für jene gefährlich, die ihre partikularen Interessen als allgemeine ausgeben.

Menschen statt Digitalzombies und kybernetische Monster

Wir brauchen keinen „Digitalpakt für Schulen“, sondern einen gesellschaftlichen Solidarpakt, der Schulen und Schüler vor der Zurichtung durch die Digitalisierung schützt. Das ganze digitale Geraffel ist ja ohnehin im Übermaß vorhanden und nimmt die Schüler und Schülerinnen von morgens bis abends in Beschlag. Da muss die Schule nicht auch noch einsteigen. Das Geld, das für den Digitalpakt vorgesehen ist, sollte stattdessen für das Anlegen von Gärten, die Einrichtung von Werkstätten, in denen handwerklich reale Dinge hergestellt werden können, für Theater-AGs und Musik- und Literaturprojekte ausgegeben werden. Wir sollten die Potenziale der natürlichen Intelligenz entwickeln, bevor wir auf die künstliche setzen. Die Köpfe der Kinder müssen aus der digitalen Begradigungsmaschine herausgezogen und freigemacht werden für menschliche Entwicklungs- und Lernprozesse. Ein Vormittag im Wald ist unermesslich wertvoller als einer vor Bildschirmen. In Anlehnung an Herbert Achternbusch, der dieser Tage 80 Jahre alt geworden ist, möchte ich zum Schluss sagen: Wenn wir die Digitalingenieure von den Straßenbaustellen in den Köpfen vertrieben haben, wenn die Autos verrostet und die Wege wieder krumm sind, dann werden eines Tages wieder ein paar richtige Menschen herumlaufen und nicht diese Digitalzombies und kybernetischen Monster.

*Wikipedia: Als Kritische Theorie wird eine von Hegel, Marx und Freud inspirierte Gesellschaftstheorie bezeichnet, deren Vertreter auch unter dem Begriff Frankfurter Schule zusammengefasst werden. Ihr Gegenstand ist die kritische Analyse der bürgerlichkapitalistischen Gesellschaft, das heißt: die Aufdeckung ihrer Herrschafts- und Unterdrückungsmechanismen und die Entlarvung ihrer Ideologien, mit dem Ziel einer vernünftigen Gesellschaft mündiger Menschen.
**Wikipedia: Ray Kurzweil ist Director of Engineering bei Google. Er ist ein Pionier der optischen Text – erkennung, Sprachsynthese und Spracherkennung. Abb: © pololia – Fotolia.com
***ein negatives Gegenbild zur positiven Utopie
****Wikipedia: Fungibilität ist die Eigenschaft von Gütern, nach Maßeinheit, Zahl oder Gewicht bestimmbar und deshalb innerhalb derselben Gattung durch andere Stücke gleicher Art, Menge und Güte austauschbar zu sein.
*****Wikipedia: Als digital native (deutsch: „digitaler Eingeborener“) wird eine Person der gesellschaftlichen Generation bezeichnet, die in der digitalen Welt aufgewachsen ist.

Der Text erschien bereits auf https://hinter-den-schlagzeilen.de

Eine Antwort

  1. Gaby
    Das Leben ist Wandel

    Es sind ja nun die Inhalte, die entscheidend sind, weniger das Medium. Zuhause mögen Jugendliche unbeaufsichtigt im Internet surfen; gerade deshalb ist es ja schon längst überfällig, den richtigen Umgang damit zu schulen. Und solange die Präsenz von Schülern und Lehrern gegeben ist, menschelt es auch noch 😉

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