Abb: © Kzenon - Fotolia.comGlobal News: Wirtschaft ist Care – nicht nur was Geld einbringt, darf sich „Wirtschaft“ nennen 25. September 2015 Neue Wirtschaft Wirtschaft ist Care – oder: Die Wiederentdeckung des Selbstverständlichen Martha Béery-Artho, Präsidentin der schweizerischen IG Frau und Museum, befragte die Schweizer evangelische Theologin und Autorin Ina Praetorius (Themenschwerpunkte feministische Ethik und postpatriarchale Lebensgestaltung), zu ihrem neuen Essay „ Wirtschaft ist Care “ *. Was bedeutet „ Wirtschaft ist Care “? Auf den ersten Seiten jedes Lehrbuchs der Ökonomie steht, das Kerngeschäft der Wirtschaft sei „die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse“. Ich frage mich nun: Wie kommt es dazu, dass ausgerechnet diejenigen Tätigkeiten, in denen es am offensichtlichsten um die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse geht – nämlich Kochen, Waschen, Gebären, Stillen, Putzen, Zuhören und so weiter – gewohnheitsmäßig aus dem Gegenstandsbereich der Wirtschaftswissenschaft ausgeschlossen werden, während Tätigkeiten und Produkte wie Waffen, Schönheitsoperationen, Talkshows, Finanzprodukte oder Rennautos selbstverständlich als „Befriedigung menschlicher Bedürfnisse“ gelten? Was ist da schief gelaufen? Schief gelaufen ist, dass Tätigkeiten und Produkte heute – entgegen der allgemein akzeptierten Definition – nur dann als „Wirtschaft“ gelten, wenn sie in den Geldkreislauf einbezogen sind, oder anders ausgedrückt: Nur was Geld einbringt, darf sich „Wirtschaft“ nennen. Das widerspricht aber nicht nur dem erklärten Selbstverständnis der Ökonomen und Ökonominnen. Es bringt uns auch in widersprüchliche, verzweifelte Situationen. Zum Beispiel: Ein großer Teil der Frauen, die Kinder erziehen, verarmen weltweit. Gleichzeitig „müssen“ wir Waffen produzieren, um „Arbeitsplätze“ zu erhalten. In meinem Essay versuche ich, diesem Widerspruch im Kern unserer Wahrnehmung auf den Grund zu gehen. Und jetzt forderst du also, dass alle Tätigkeiten, die menschliche Bedürfnisse befriedigen, (wieder) als Wirtschaft zählen sollen. Genau genommen „fordere“ ich das nicht, sondern ich stelle fest, dass wir uns längst auf den Weg gemacht haben: Die Frauenbewegung ist dabei, Care-Tätigkeiten in die öffentliche Wahrnehmung zurückzuholen. In Berlin wurde im März 2014 die „Care-Revolution“ ausgerufen. Seither streiken allerorten KiTa- Erzieherinnen und Krankenhauspersonal. Männer fordern mehr Teilzeitarbeit, Care-Migrantinnen aus Osteuropa führen erfolgreich Prozesse gegen ihre ausbeuterischen Arbeitgeber und so weiter. Es ist viel unterwegs, auf ganz verschiedenen Ebenen. Der Paradigmenwechsel in der Ökonomie, den ich konstatiere, hat zwar die akademischen Machtzentren und die Schaltstellen der globalen Marktwirtschaft noch kaum erreicht. Aber in diesen Sphären jagt ganz offensichtlich eine Krise die nächste. Die Ökonomen sind nicht mehr so mächtig, wie sie immer noch behaupten, sondern in Wirklichkeit ziemlich ratlos. Es ist deshalb wichtig, im Kern der Ordnung, die all diese Krisen verursacht, neu zu denken und neuartige Lösungen zu finden. Gerade die Wirtschaftsfachleute, die heute einen großen Teil des Denkens und Lenkens beherrschen, werden von deinen Überlegungen nicht begeistert sein … Ja, klar, viele sind nicht so begeistert und geben sich gewohnheitsmäßig arrogant. Schließlich wird von ihnen verlangt, sich einen riesigen blinden Fleck in ihrem bisherigen Denken nicht nur anzuschauen, sondern gleich auch noch die ganze Ökonomie vom Kopf auf die Füße zu stellen. Das tut weh. Schon die unbezahlte Care-Arbeit in Privathaushalten macht ja annähernd fünfzig Prozent des gesamtgesellschaftlichen Arbeitsvolumens aus. Dazu kommen noch die unterbezahlten Leistungen im Spital, in Heimen, im Erziehungswesen, in der Spitex** und so weiter und schließlich die Leistungen der außermenschlichen Natur – Luft, Wasser, natürliches Wachstum –, die man lange einfach als gratis gegeben angenommen hat. Care- Arbeit wird ja auf eine strukturell vergleichbare Art und Weise an den Rand gedrängt wie die menschliche und außermenschliche Natur. Es geht hier ganz grundsätzlich auch um das Verhältnis von Ökonomie und Ökologie. Ein solches Umdenken geht nicht von heute auf morgen. Deshalb übe ich mich in Geduld. Es wird noch eine Weile dauern, bis der Paradigmenwechsel die konventionellen Machtzentren erreicht hat. Ich halte es da mit Conchita Wurst: letztlich sind wir „unstoppable“. Welche konkreten Maßnahmen müssten getroffen werden, damit der Care-Gedanke in die Wirklichkeit umgesetzt werden könnte? Waren nicht in der sozialen Marktwirtschaft schon Ansätze vorhanden, die nun einer nach dem anderen den „Sparmaßnahmen“ der Länder zum Opfer fallen? Ja, es gibt Rückschritte. Besonders schmerzhaft sind sie vorerst nicht hier in der Schweiz, sondern vor allem in Südeuropa. Ganz zu schweigen von den ehemaligen Kolonien, vor allem im subsaharischen Afrika, die wir immer noch hemmungslos ausbeuten. Andererseits: Die klassische „soziale Marktwirtschaft“ war ein paternalistisches Projekt. Sie beruhte auf der klassischen Versorgerehe, die wir zum Glück hinter uns haben. Vieles hängt im Moment davon ab, ob die neuen Widerstandsbewegungen, die zum Teil schon an der Macht sind – zum Beispiel in Griechenland – sich eine konsequente Care-Politik zu eigen machen und das auch selbstbewusst kommunizieren. Ansätze dazu sind vorhanden. Es ist zur Zeit sehr spannend, die täglichen Nachrichten mit dem Care-Blick zu verfolgen. Welche Auswirkungen, denkst du, hätte der Wandel insbesondere auf Frauen und deren Lebensumstände, also auf die Menschen, die immer noch den größten Teil der unbezahlten Care-Arbeit leisten? Wenn alles, was Frauen täglich gratis für die Welt tun, öffentlich als Ökonomie anerkannt würde, wenn andererseits Spekulanten und Waffenhändler erklären müssten, inwiefern ihr Tun Wirtschaft, also Bedürfnisbefriedigung ist, dann hätte das immense kulturelle Folgen. Wie sich der Paradigmenwechsel auf die konkreten Lebensumstände der Frauen auswirken würde, liegt auf der Hand: Es würde ihnen besser gehen, sie bekämen mehr Lohn, mehr An erkennung, mehr Sicherheit … Es gibt unterschiedliche ökonomische und sozialpolitische Modelle, wie sich dieser Zustand schrittweise erreichen lässt. Eines davon ist das bedingungslose Grundeinkommen, über das wir nächstes Jahr abstimmen. * Der Essay kann über die Heinrich-Böll-Stiftung bezogen werden. ** spitalexterne Hilfe und Pflege Hinterlasse einen öffentlichen Kommentar Antwort abbrechenDeine Email Adresse wird nicht veröffentlicht.KommentarName* E-Mail* Meinen Namen, meine E-Mail-Adresse und meine Website in diesem Browser für die nächste Kommentierung speichern. Überschrift E-Mail-Benachrichtigung bei weiteren Kommentaren.Auch möglich: Abo ohne Kommentar. Durch Deinen Klick auf "SENDEN" bestätigst Du Dein Einverständnis mit unseren aktuellen Kommentarregeln.