Was hat Sex mit heilig zu tun? Wie verbinden wir die animalische Triebkraft mit den höheren Oktaven der Liebe? Warum ist der Schlüssel zur Heilung der Dreiklang von Innehalten, in Kontakt bleiben und fühlen? Diese und andere Fragen über heilige Sexualität beantwortet die Autorin und Seminarleiterin Vivian Dittmar im Interview mit SEIN-Redakteur Oliver Bartsch

 

Mit Ihrem Buch „Sacred Sex“ versuchen Sie vor allem, keine neuen Konzepte über Sexualität in die Welt zu setzen. Wie sollte ich mich denn Ihrer Meinung nach grundsätzlich der Sexualität nähern?

Vivian Dittmar: Am Besten ganz ohne „sollte“, eher wie ein kleines Kind sich der Welt nähert: neugierig, offen, verspielt, wach, achtsam. Unsere Konzepte verhindern ja genau das. Daher war es mir sehr wichtig, mit meinem Buch keine neuen Bilder in die Welt zu setzen, denen dann vielleicht auch noch nachgeeifert wird. Denn so schön ein Bild oder ein Ideal auch ist: es verhindert, dass wir uns wirklich auf diesen Moment einlassen und genau da spielt sich ja bekanntlich das Leben ab. Sex ist ein Lebensbereich, der bei vielen Menschen sehr stark von Bildern und Konzepten belastet ist. Das hat mehrere Gründe: die überholten Tabus der Religionen, die verzerrten Bilder der Pornobranche oder die Konzepte heiliger Sexualität in der Tantraszene können alle Quellen solcher Ideale sein. Diese können uns zwar helfen, mit einer Sehnsucht in uns in Kontakt zu kommen, bei der Erfüllung dieser Sehnsucht sind sie jedoch paradoxerweise ein Hindernis.

 

Nach Ihrer Definition ist Sex dann heilig, wenn er einzigartig, verbunden, ganz und heilsam ist. Was verstehen Sie darunter?

Wenn Sex sich mit Bewusstsein verbindet, hat er von Natur aus diese Merkmale. Eine andere, noch einfachere Art es auszudrücken wäre zu sagen, Sex ist dann echt. Wir spielen nicht irgendwelche Szenen nach, die wir mal wo gesehen haben, wir eifern auch nicht den Erregungskurven nach, über die wir in einem Aufklärungsbuch gelesen haben, wir jagen nicht dem Orgasmus hinterher oder versuchen, uns als der weltbeste Liebhaber in Szene zu setzen. Wir sind vor allem eines: präsent, in Kontakt mit uns selbst und dem anderen, offen für das, was sich zeigen und entstehen möchte. In einem solchen Raum zeigt sich alles mögliche, nicht nur die ekstatischen Höhenflüge. Wenn wir auch da einfach dableiben, wird Sex eben nicht nur heilig sondern auch heilsam, dann wird der Sex zu einem Ort, wo wir ganz werden.

 

Sie warnen vor der Falle der Bedingungslosigkeit, die uns unauthentisch werden lässt. Ist nicht die Bedingungslosigkeit die Voraussetzung für Liebe?

Liebe ist bedingungslos, das ist ihr Wesen. Doch auf dieser Welt ist alles bedingt, das ist ein Grundmerkmal von Beziehung. Liebe kann also in der Bedingtheit der Welt nur dann authentisch sein, wenn sie auch die Bedingtheit miteinschließt. Wenn wir die Bedingungslosigkeit der Liebe nicht wirklich durchdrungen haben, passiert es schnell, dass wir alles, was im außen ist, bedingungslos annehmen, es jedoch versäumen, auch den Widerständen und Impulsen, die sich in unserem Inneren zeigen, mit der gleichen Bedingungslosigkeit zu begegnen. Mit anderen Worten: bedingungslose Liebe gilt immer auch mir selbst, genau wie dem anderen, dem Innen wie dem Außen. Und das bedeutet, dass sie auch meinen Widerständen gilt oder denen des anderen. Sie sagt zu allem ja, auch zu dem Nein. Das ist für den Kopf sehr schwer zu begreifen, er kennt nur entweder oder. Wenn wir uns jedoch mit unserem Herzen auf diesen Widerspruch einlassen, offenbart sich das wirkliche Geschenk unserer Liebesfähigkeit, das „sowohl-als-auch“.

 

Sie beschreiben den Eros als verbindende Kraft zwischen animalischer Triebkraft und Liebe des Herzens. Der Eros ermögliche Intimität, Vereinigung und Verschmelzung auf allen Ebenen. Wie können wir diese Sehnsucht verwirklichen?

Für mich beginnt es mit der bewussten Verbindung dieser beiden Pole, die in vielen Menschen getrennt voneinander existieren: Herz oder Trieb, Liebe oder Wollen, Lust oder Kuscheln, Fürsorge oder Begehren. Der erste Schritt ist zu merken, dass hier eine Spaltung geschehen ist, die stark kulturell konditioniert ist. Der zweite Schritt ist zu beobachten, wie wir zwischen beiden Polen hin und her springen. Der dritte Schritt ist dann, in uns selbst die Gleichzeitigkeit dieser beiden Kräfte zu üben und eine bewusste Verbindung zuzulassen. Dann beginnt die Kraft, die ich Eros nenne, in uns zu zirkulieren. Es ist also zunächst ein innerer Prozess in jedem Einzelnen. Erst dann ist es relevant, das mit jemand anderem zu teilen, wodurch diese Dynamik natürlich eine ganz andere Qualität und Intensität bekommt. Gerade zwischen Paaren ist oft zu beobachten, dass sie sich die Rollen aufgeteilt haben, was sich auch in den gängigen Klischees spiegelt: er will Sex, sie will Kuscheln. Doch das gleiche gibt es natürliche genauso umgekehrt. Der Punkt ist schlicht folgender: wenn einer in der Beziehung sich nur um das Herz kümmert und der andere nur um den Trieb, verlieren wir leicht den Kontakt mit unserer eigenen Sehnsucht nach dem jeweils anderen Pol.

 

Was uns von authentischer Sexualität trennt, sind überholte Tabus, falsche Bilder und alte Wunden. Sie stellen unser kollektives Erbe dar, durch das wir uns erstmal durcharbeiten müssen. Können Sie uns ein paar Beispiele geben?

Über falsche Bilder habe ich ja bereits gesprochen. Mit überholten Tabus meine ich die Moralvorstellungen, die vor allem von den Kirchen propagiert wurden. Diese sind nicht nur überholt, weil viele Menschen sich nicht mehr mit ihnen identifizieren können, sondern auch, weil die gesellschaftlichen Funktionen, die sie erfüllt haben, weitgehend überflüssig geworden sind. Um es an einem einfachen Beispiel zu verdeutlichen: Wir haben heute andere Mittel, uns vor ungewollten Schwangerschaften zu schützen als das Gebot, keinen Sex vor der Ehe zu haben. Doch diese Tabus wirken nach, in uns allen, entweder aufgrund persönlicher Konditionierungen in der Kindheit oder durch das Kollektiv. Das kann sich entweder darin äußern, dass wir sexuell gehemmt sind oder aber auch, dass wir ständig in Reaktion auf diese Konditionierungen leben, also übersexualisiert sind, um zu beweisen, dass Sex sein darf.

Erst wenn wir uns dieser Tabus bewusst werden, können wir auch bewusst entscheiden, welche Rolle sie in unserem Leben spielen sollen. Was sind unsere persönlichen Werte? Was bedeutet Treue für uns? Ist Lust Sünde? Muss jeder Impuls ausgelebt werden, um sexuell frei zu sein? Erst dann werden wir mündig um Umgang mit unserer Sexualität.

Alte Wunden sind die Spuren, die der inzwischen Jahrtausende währende Kampf der Geschlechter in uns allen hinterlassen hat. Ich sehe uns gerade an der Schwelle zu einer neuen Phase in der Beziehung zwischen Mann und Frau. Wir sind sozusagen dabei, die Waffen niederzulegen und versuchen, den Übergang zu einer Partnerschaftskultur hinzubekommen. In so einem Prozess spielt die Aufarbeitung alter Wunden eine zentrale Rolle. Das kann entweder unbewusst geschehen, zum Beispiel wenn wir in unseren Partnerschaften einander wieder als Täter wahrnehmen und uns gegenseitig retraumatisieren. Oder es kann bewusst geschehen, wenn wir in uns diese Dynamik erkennen und den Beziehungsraum, auch den sexuellen, bewusst als Heilungsraum für diese Wunden begreifen. Dabei geht es mir übrigens nicht vor allem um ein Durcharbeiten, sondern der Weg ist das Ziel. Immer wieder zeigt sich auch das und will liebevoll integriert werden, mit allem Schönen, das wir auf dieser Reise erfahren dürfen.

 

Neben den ganz persönlichen Traumata durch sexuelle Gewalt stünden vor allem kollektive Wunden einer erfüllten Sexualität entgegen. Was verstehen Sie unter kollektiven Wunden?

Naja, die eben genannten Wunden können eben aus ganz persönlichen Missbrauchs- oder Gewalterfahrungen entstanden sein. Bei sehr vielen Menschen ist es jedoch so, dass sie persönlich keine direkte Missbrauchs- oder Gewalterfahrung hatten, dennoch plötzlich merken, dass sie ein Missbrauchsthema haben. Das kann sehr verwirrend sein. Manch einem wurde dann in therapeutischen Settings schon eine Missbrauchserfahrung angedichtet. Natürlich gibt es Missbrauch, der verdrängt wurde, das möchte ich gar nicht beschönigen. Mir geht es um etwas anderes: es gibt eben auch das kollektive Gedächtnis, das die lange Geschichte der Gewalt zwischen Mann und Frau noch lange nicht verarbeitet hat. Wie sollten wir auch – schließlich ist dieses Kapitel global betrachtet bei weitem noch nicht Geschichte. Das nenne ich kollektive Wunden. Aus eigener Erfahrung und auch durch den Austausch mit anderen Menschen, die bewusste Sexualität praktizieren, weiß ich, dass diese Wunden in intimen Räumen auftauchen können – genau wie sie in unseren Partnerschaften zuweilen eine unheilvolle Rolle spielen. Wenn wir wach sind, können wir lernen zu merken, wann es um etwas überpersönliches geht. Dann machen wir nicht den Fehler, unseren Partner für das, was ausgelöst wird, verantwortlich zu machen, sondern können erkennen, dass sich gerade eine Gelegenheit für Heilung und dadurch für tiefere Intimität zeigt.

 

Warum ist der Schlüssel zur Heilung in der Sexualität der Dreiklang von Innehalten, in Kontakt bleiben und fühlen?

Es geht immer um Gegenwärtigkeit, und die geschieht durch diesen Dreiklang. In der Gegenwärtigkeit eröffnet sich eine gewisse Magie, die wir nicht verstehen, jedoch erfahren können. Gegenwärtigkeit ist per se heilsam, denn dadurch, dass wir dem, was ist, Bewusstsein schenken, kann es verarbeitet, verdaut und integriert werden. Und indem wir das tun, wird das Verarbeitete Teil unseres Bewusstseinsraums. Deshalb ist diese Form der Heilung für mich auch gleichbedeutend mit Ganzwerdung. Immer wenn es mir gelingt, auch in schwierigen Momenten da zu bleiben, integriere ich einen weiteren Aspekt meines Wesens: „Ah, das bin ich auch“ ist ein Satz, der diese Erfahrung für mich ganz gut auf den Punkt bringt.

 

Es geht Ihnen in ihrem Buch um die innere Dimension von Sexualität. Wie können die Werkzeuge Atem, Bewusstsein und Absicht dazu beitragen, Trieb und Liebesfähigkeit so auszurichten, dass heilige Sexualität entsteht?

Diese drei Werkzeuge – Atem, Bewusstsein und Absicht – ermöglichen es mir, die Kräfte in meinem System bewusst zu lenken. Dabei geht es nicht um Kontrolle, das wäre kontraproduktiv, sondern um Ausrichtung.

Der Atem ist die einfachste Möglichkeit, Bewusstsein zu beeinflussen. Wir tun dies beim Sex meist unbewusst, etwa indem wir schnell und flach atmen, wenn es sehr aufregend wird. Wenn wir den Atem in Verbindung mit Bewusstsein und Absicht nutzen, können wir zum Beispiel unseren Trieb so lenken, dass er sich mit unserem Herzen verbindet und unser ganzes System von dieser Kraft erfüllt wird. Das kann zu sehr starken bewusstseinserweiternden Erfahrungen führen und ermöglicht es uns, ganz neue Ebenen im Liebesspiel zu erschließen. Außerdem sind diese drei Werkzeuge zentral, um aus dem weit verbreiteten klassischen Schema Anfang – Hauptteil – Schluss auszusteigen. Wir können beginnen, das Liebesspiel als eine Reise mit vielen Tälern und Höhen zu begreifen und lernen, die eigenen Energien so zu lenken, dass eben nicht nach der ersten Steigung gleich Schluss ist. Erst dann ist überhaupt der Raum da, um diesen kostbaren Bewusstseinszustand immer tiefer zu erforschen und in seiner Gesamtheit zu feiern.

 

Auf der ersten online Frauen-Konferenz wird am 13. Dezember 2016 ein Interview mit der Autorin über Ihr Buch „Sacred Sex“ ausgestrahlt: http://frauen-konferenz.de


Literaturtipp
Vivian Dittmar: Sacred Sex – Das intime Gebet, 232 Seiten, Edition Est 2016, 17,50 €

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