Transformation – auch Wandel, Umwandlung, Gestaltwandel, Metamorphose genannt – ist ein Wachstumsprozess, den alles Lebendige durchläuft, um nach der Zeit der Blüte, Frucht oder vollkommenen Gestalt „zurückzuwachsen“ in das Nicht-Manifeste.

von Karin Petersen

In einem der populärsten Texte zum Thema Transformation, Hermann Hesses Gedicht Stufen, heißt es:
Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
Er will uns Stuf‘ um Stufe heben, weiten

Können wir diesen Prozess der Bewusstseinserweiterung bei uns selbst überhaupt anstoßen, gestalten, beschleunigen? Wohin wollen wir uns wandeln und „transformieren“? Wer wollen wir sein, die/der wir jetzt nicht sind? Haben wir das überhaupt in der Hand? Äußert sich in diesen unseren Versuchen, unsere Transformation zu beeinflussen, nicht der uralte menschliche „Machbarkeitswahn“, der vor nichts und niemandem Halt macht?

 Getrieben von dem Wunsch nach Heilung von alten, quälenden (Verhaltens-)Mustern habe ich im Laufe meines inzwischen doch recht langen Lebens so ziemlich die ganze regenbogenbunte Palette spiritueller Wachstumsmethoden durchprobiert – von Rückführungen in vergangene Leben, Chakra-Arbeit und tantrischen Liebespraktiken bis zu schamanistischen Reisen und Hexentänzen in Vollmondnächten mit Liebeszauber. Und auch das Schülerin-Meister-Spiel habe ich nicht ausgelassen. Ich möchte diese unterschiedlichen spirituellen Praktiken zur Bewusstseinserweiterung hier jedoch nicht in Misskredit bringen. Sie alle haben mir als Schritte auf meinem Weg neue Erfahrungen und Sichtweisen vermittelt und das Wissen um meine menschlichen Potenziale vertieft. Schräg wurde und wird es für mich da, wo sie mit unrealistischen Heilungsaussichten prunken. Wo sie mich verlocken, der Illusion nachzujagen, ich müsse nur die richtige Methode (oder den richtigen Guru) finden, um endlich heil und ganz zu werden; das heißt, ein transformierter Mensch, der nicht mehr an sich und der Welt leidet, sondern sein Leben so freudig lebt, wie das laut mancher spirituellen Schulungswege sein Geburtsrecht ist. Warum aber sieht die Welt immer noch so aus, als ob der Mensch sich nicht grundlegend wandeln kann – und mit seinen primären Antriebskräften, seinem Machtstreben und seiner Gier, diesen Planeten und damit sich selbst zugrunde richtet? Wo uns doch alle Mittel und Methoden zur Verfügung zu stehen scheinen, um unseren menschlichen Wachstumsprozess zu steuern und endlich Qualitäten wie emotionale Kompetenz, Mitgefühl, Dankbarkeit und das Wissen um den Zusammenhang allen Lebens zu entwickeln?

Alles Tun „um zu“…

Irgendwann im Laufe meiner Suche begriff ich, dass mein grundlegender Antrieb für all die spirituellen Experimente der war, eine andere sein zu wollen als die, die ich bin. Ich war mir selbst nicht genug. Ich meditierte, um gelassener zu werden, praktizierte Yoga, um fitter zu werden. Alles, was ich für mein Seelenheil betrieb, bestand in diesem „um zu“. Im Innehalten kam mir die verblüffend simple Erkenntnis, dass ich immer weg wollte von mir – und all die Mühen des Weges auf mich nahm, um genau nicht die zu sein, die ich bin. (Wie der tibetische Mönch, von dem ich neulich las, der nach 30 Jahren Meditationspraxis mit Mantren und Visualisierungen plötzlich erkannte, dass er sich die ganze Zeit von seinen Gefühlen „wegmeditiert“ hatte.) Heute würde ich den Prozess meiner Suche als einen der fortlaufenden Ernüchterung bezeichnen. Von den vielen Angeboten im Medizinschrank der spirituellen Wachstumsbeschleuniger sind mir die tägliche Praxis von Meditation (stilles Sitzen) und Yoga geblieben. Sowie gelegentliche Therapiestunden bei der Therapeutin, die mich seit Jahren begleitet. Und das Schreiben. Heute geht es mir bei all diesen Praktiken primär darum, mich so aufrichtig wie möglich mit mir selbst zu konfrontieren: Hier. Jetzt. Die, die ICH BIN. Mit all meinen Traurigkeiten, Ängsten, Ärgernissen, Freuden und der großen Stille. Kein Wegschweben auf Wolke sieben, kein Mantra oder andere Heilungsklänge, kein Visualisieren von Orten der Kraft oder meinem Krafttier. Stattdessen: mich aushalten. In dem Wissen, dass sich nur wandeln kann, was ich von Augenblick zu Augenblick bewusst er- oder durchlebe. Und so verstehe ich auch den Untertitel meines neuen Buches Vom Reichtum des Älterwerdens: Nicht als beschönigende Floskel, sondern als Versuch, den Schmerz, den alten und den neuen, der mit dem Älterwerden verbunden ist, mit hineinzunehmen in mein Leben. Genau das macht es für mich reich und schenkt mir Sinn. Wie auch das Wissen, dass die Suche kein Ende hat und ein zutiefst individueller und kreativer Prozess ist, der viel Mut verlangt. „Das Leben“, heißt es bei Osho, „ist ein Mysterium, das es zu leben gilt, kein Problem, das wir lösen müssten.“

Das Mysterium, das ich bin

Und die Transformation? Manchmal, beim stillen Sitzen, habe ich das Gefühl, dass ich mich dem, was Hesse den „Weltgeist“ und andere das „Große Ganze“, das „Göttliche“ oder „Evolution“ nennen, zur Verfügung stelle. Mich hingebe an diesen „Weltgeist“, der den Wandel auch ohne mein Zutun an mir vollzieht. Weil ich Teil dieser Evolution bin. Weil ich mehr bin, viel mehr, als mir bewusst ist. Manchmal habe ich eine Ahnung von der Weite, die hinter meinem kleinen Ich aufschimmert, dem Mysterium, das ich bin. Wenn ich heute in meinem Poona-Tagebuch Ich will nicht mehr von dir, als du mir geben magst blättere, das ich vor 40 Jahren schrieb und das das am meisten gekaufte meiner Bücher ist, muss ich oft schmunzeln. Über meinen damaligen Überschwang, von ekstatischer Begeisterung bis zur qualvollen Selbst-Erkundung. Mit meinen inzwischen 72 Jahren (!) bin ich heute ein kleines bisschen weiser – das heißt, ich weiß um die Begrenztheit meiner Möglichkeiten, mich zu wandeln, und bin grundlegend einverstanden mit dem Weg, der mich bis hierher führte und sich von Augenblick zu Augenblick weiter entfaltet, ohne dass ich ihn vorzeichnen könnte.

Noch einmal Hesse:
Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
Uns neuen Räumen jung entgegensenden,
Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden

Begonnen mit der Absicht, Rückschau zu halten, landet die alte Frau, Verfasserin des literarischen Poona-Tagebuchs, immer wieder in ihrer Gegenwart. Die ist ihr reich genug, erschließt sie ihr doch „die Poesie des Augenblicks“. Älterwerden als Abenteuer – auch das! Und die Wandlung? Besteht in ihrer Sicht auf dieses „Abenteuer“, ihrer Haltung dazu, ihrem Umgang damit. Den hat sie sich erarbeitet, und sie übt sich weiterhin darin. Der Rest liegt nicht in ihrer Hand. Möglicherweise ist der Tod, der täglich näher rückt, für sie Antrieb, genau dieses ihr kleines alltägliches „Mysterium“ bewusst zu leben und – zu würdigen.

Auszug aus: Heute ist Morgen Gestern. Vom Reichtum des Älterwerdens von Karin Petersen

Dezember 1
Hier sitzen vor den Tasten, von denen manche beschädigte, von unzähligen Anschlägen abgetragene Buchstaben zeigen. Die Finger erinnern die Wege, die sie nehmen müssen, um Worte zu bilden, die Sinn ergeben. Nur wenn ich überlege, welche Taste ich anschlagen soll, komme ich durcheinander und tippe Kauderwelsch. Hier sitzen und nach Jahren wieder Worte machen wollen – doch um was? Ich muss sie umkreisen mit Vermutungen, diese Frage. Vermutungen, die aus dem Wunsch erwachsen, mein Leben schreibend einzuholen, seinem Geheimnis auf die Spur zu kommen, es zu würdigen. Dieser Wunsch hat zugenommen in dem Maße, wie ich alt geworden bin, bis er die immer gegenwärtige Angst zu scheitern besiegt hat. Dass jedes Leben ein Geheimnis ist, dem wir in späteren Lebensjahren rückblickend auf die Spur kommen können, ist wohl mehr Wunsch als Wirklichkeit. Das schmälert die Sehnsucht nicht, es möge so sein: dass mein Leben einer geheimen Orchestrierung folgt, die sich abzuzeichnen beginnt, wenn ich mich ihm schreibend widme.

Dezember 7
An die hölzerne Verkleidung gepinnt, mit der die Wände meines Arbeitszimmers verschalt sind, hängt ein Kalenderblatt vom Juli eines nicht genannten Jahres mit einem Zitat von Mrs Virginia Woolf, das seit vielen Jahren zu mir spricht, ohne dass ich bislang verstanden habe, was sie mit diesen Worten eigentlich sagen will:„Es ist immer so, dass ich über die Seele schreiben will, dann kommt mir das Leben dazwischen.“

Dezember 12
Wie schriebe ich denn wahr und wahrhaftig über die Seele. Wie setzte ich sie schreibend in die Tat um, die hier zitierten Worte von Mrs Woolf? Hängen sie seit Jahren in diesem Zimmer als Arbeitsauftrag, den ich noch zu erfüllen habe? „Über die Seele schreiben…“Was hat die kluge Mrs Woolf damit gemeint? Etwas in mir, so könnte ich es – ganz nüchtern! – beschreiben, gerät in Schwingung, wenn ich diese Worte lese. Sie kommen mir vor wie ein Versprechen auf das Eigentliche, um das ich hier erklärtermaßen kreise.

Dezember 13
… die Liebe, natürlich. Liebe Liebe Liebe. Sage ein Wort oft genug und es wird so sehr bloßer Klang, dass der Inhalt darüber verloren geht. Ist uns der Inhalt von Liebe verloren gegangen, weil alle Welt das Wort ständig im Munde führt?

Dezember 25
Die Nachbarin, die wir heute zum Mittagessen eingeladen hatten, schenkte uns einen Weihnachtsstern. Der stand den ganzen Nachmittag lang auf einem der grünen Gartenstühle im Flur. Als ich am frühen Abend zum x-ten Mal an ihm vorbeilief, beschloss ich, bei meiner anfänglichen Abneigung gegen ihn nicht stehen zu bleiben. Ich holte den Weihnachtsstern in mein Zimmer, stellte ihn unter die Leselampe und setzte meine Lesebrille auf. „Eigentlich“, dachte ich, während ich mich zu ihm beugte, „ist es doch rührend, dass ein Gewächs sich farblich so präzise auf Weihnachten einstellt.“ Als ich die Leselampe anknipste, traf mich das Rot der oberen Blätter mit einer solchen Leuchtkraft, dass ich fast zurückwich. Nie hatte ich so ein Rot gesehen! Zum ersten Mal nahm ich in der Mitte dieser röter als klatschmohnroten Blattrosetten die kleinen Blütenknospen in Lindgrün wahr, von denen einige, halb geöffnet, rot angelaufen sind und auf knallroten Stielchen ein Büschel winziger zitronengelber Staubgefäße zeigen. Bei diesem Anblick fielen mir Alpenveilchen und Stiefmütterchen ein, denen ich ebenfalls lange naserümpfend begegnete – bis ich eines schönen Tages entdeckte, wie reizend sie doch eigentlich sind! All diese Geschöpfe musste ich, um ihre Schönheit zu entdecken, freischaufeln von den Assoziationen, unter denen ich sie verbuddelt hatte. Sie hatten mich an tüdelige alte Tanten denken lassen, die ihre Tage damit verbringen, verwelkte Blüten von ihren Topfpflanzen zu zupfen und nicht verrutschte Häkeldeckchen glattzustreichen. Die alles noch einmal fragen und mitgebrachte Geschenke unausgepackt im Kleiderschrank vergessen. Die nach Uraltlavendel riechen, die Milch für ihren Kaffee anbrennen lassen, die Namen ihrer Gäste und Enkelkinder ständig durcheinanderbringen. Und… „Schluss jetzt!“, rief ich mir innerlich zu und: „Wie gemein ist das denn!“ Wie oft sind wir so gemein, Dinge und Menschen unter unseren Abneigungen zu begraben, die auf Denkverbindungen beruhen, welche sowohl dem Ding oder Lebewesen selbst wie auch dem oder den damit Assoziierten Unrecht tun. Kein Wunder, dass ich mich bei diesem Bild von alten Damen schwer tue, selbst eine zu sein! Der Weihnachtsstern steht jetzt in diesem Arbeitszimmer. In seinen ersten Stunden hier bei uns hat er im Flur drei grüne Blätter abgeworfen. Das hätte ich nach so einer Begrüßung auch getan.

Dezember 29
… im letzten Sommer: Ich bog um die Ecke, gedankenverloren, und da stand er, nur wenige Meter von mir entfernt, trank aus dem hölzernen Bottich am Rand des Blumenbeets. Ich blieb stehen, erstarrte in der Bewegung wie er, der den Kopf gehoben hatte, um mich anzuschauen, ohne zu weichen. Dieser Blick aus honigfarbenen Augen – mein Herz schlug rasch. Angst kam auf, doch ich hielt dem Fuchsblick stand. Nie hatte ich in solche Augen gesehen. Leer und ausdruckslos, wie sie auf den ersten Blick schienen, sahen sie mich an mit einer Wachsamkeit, die sie auch in mir weckten. Einer Wachsamkeit, die, ganz dem Augenblick hingegeben, für alle Möglichkeiten offen war. Wir beäugten uns, der Fuchs und ich. Lange, so kam es mir vor. Regungslos und wach verweilten wir miteinander. Sahen hin zueinander. Waren da. Hielten still vor dem Augenblick. Mir war, als schaute ich in diesen honigfarbenen, wilden Augen ein zeitloses Wissen um alle Füchse und Menschen, die sich auf diesem Planeten je begegnet sind. Und mir war auch, als müsste ich diesem einen Fuchs Abbitte leisten für das, was unsere Spezies seiner Spezies angetan hat und immer noch antut. Doch wer war einmal Fuchs und würde ein andermal Mensch sein? In der Stille, die zwischen uns wuchs, der sicher getakteten Zeit enthoben, flog mir diese Frage zu, ohne dass ich darauf eine Antwort wusste. Schließlich senkte der Fuchs den Kopf und trank weiter, als gäbe es mich nicht. Als stünde ich nicht da, wo ich noch immer stand, um den Fuchs in meinem Garten trinken zu sehen.

 

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