Wie können wir nach einer tiefen Kränkung oder Enttäuschung verzeihen? Wie können wir inneren und äußeren Frieden finden? Und wie Vertrauen? Viele glauben an die weitverbreitete Vorstellung, dass Vergebung ein einmaliger innerer Akt ist, bei dem auf einen Schlag und ein für alle Mal verziehen wird. Und wenn dies nicht klappt, dann fühlen sie sich als nachtragende Versager. Wer jedoch ernsthaft an einer tiefen Verletzung oder an einem Trauma gearbeitet hat, weiß, dass Vergebung ein längerer, vielschichtiger – aber überaus lohnenswerter – Prozess ist.

von Sabine Groth

Keine Beziehung verläuft ohne Enttäuschungen und Kränkungen. Wir fügen anderen – ob wir es wollen oder nicht – Verletzungen zu. Und andere verletzen uns. Es geht hier nicht um die Frage, ob wir verletzt werden, sondern wie wir mit den Verletzungen umgehen. Bleiben wir in Groll und Bitterkeit stecken? Oder reichen wir dem anderen die Hand? Entscheiden wir uns für Angst und Misstrauen? Oder für die Liebe und Beziehung? Ziehen wir uns grollend in passiver Aggression zurück und rächen uns mit Kränkungswut? Oder zeigen wir uns mit unserer Verletzlichkeit? Welchen Weg wir einschlagen, hängt weitgehend von unserer Fähigkeit zu vergeben ab. Der Prozess der Vergebung ist sehr vielschichtig und erstreckt sich meist über einen längeren Zeitraum. Der Vergebung gehen viele Schritte voraus. Diese müssen nicht in der angegebenen Reihenfolge erfolgen. Doch es hilft, wenn jeder Schritt irgendwann tatsächlich gegangen wird.

1. Eingestehen aller Gefühle und Regungen

Der Prozess der Vergebung – und damit auch der Heilungsprozess – beginnt damit, dass man der eigenen Wahrheit ins Auge blickt. Der Wahrheit, dass man verletzt worden ist und daher eine große Trauer, eine Riesenwut oder Verachtung, Rachegedanken und den Wunsch nach Vergeltung in sich trägt. Es ist hilfreich, sich in diesem Moment vom Ideal des Gutmenschen zu verabschieden und sich radikal einzugestehen, welche dunklen, archaischen Regungen sich in uns ausbreiten können, wenn wir in der Tiefe verletzt oder gekränkt worden sind.

2. Das Fühlen und der Ausdruck der Gefühle

Die Wut und die Trauer wollen zum Ausdruck gebracht werden. Am besten geschieht dies in einem geschützten Rahmen, entweder wenn wir allein sind, mit einem guten Freund oder einer Therapeutin. Hier kann geweint, geschrien, geboxt und die Wut entladen werden. Oft hilft es nicht viel, wenn der „Übeltäter“ unseren geballten Zorn abbekommt, denn unser Groll löst meist nur Widerstand und Abwehr beim anderen aus und nicht die ersehnte Reue. An diesem Punkt geht es erst einmal nur um uns selbst und darum, dass das Gefühl erlebt werden darf.

3. Die Entscheidung treffen, kein Opfer zu sein

An einem bestimmten Punkt stehen wir vor der Entscheidung, ob wir weiterhin in der Rolle des Opfers, dem ein Unrecht zugefügt wurde, verharren wollen oder ob wir ab jetzt die Verantwortung für unsere Gefühle, die damit verbundenen Gedanken sowie über unseren Heilungsweg übernehmen. Es ist zwar bequemer, sich hinzustellen und weiter zu jammern, doch bezahlen wir dafür mit unserer Kraft und unserer Würde.

4. Die Entscheidung treffen, nicht selbst zum Täter zu werden

Ebenso wie wir uns von unserer Opferrolle verabschieden, können wir auch von unseren Rachegedanken und dem Vergeltungswunsch bewusst ablassen. Wir setzen unserem Verlangen ein Ende, Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Das ist natürlich kein leichter Schritt – auch wenn wir wissen, dass Gewalt – in welcher Form auch immer – nie Gutes bewirkt, dass die Genugtuung nur von kurzer Dauer ist und einen schalen Nachgeschmack hinterlässt. Unseren Seelenfrieden kann sie uns nicht zurückbringen.

5. Kindheitsverletzungen erforschen

An diesem Punkt des Verzeihensprozesses besteht die Chance, eine alte Kindheitswunde zu heilen. Wir können uns hierfür die folgenden Fragen stellen: Woran erinnert mich die aktuelle Verletzung? Kenne ich den Schmerz schon aus Kindheitstagen oder aus früheren Situationen? Warum trifft mich diese Verletzung besonders stark? Und was kann ich heute dazu beitragen, damit diese alte Wunde nun Frieden finden kann?

6. Mitgefühl für den Aggressor entwickeln

»Niemals!« magst du vielleicht denken. »Jetzt soll ich auch noch Mitgefühl für solch schäbiges, verletzendes Verhalten entwickeln. Das kommt überhaupt nicht in Frage!« Und doch war dies für mich oft der entscheidende Schritt, nach dem sich etwas in mir entspannen und beruhigen konnte. Wenn es mir gelang, mich in die Haut des anderen zu versetzen, die Beweggründe zu erahnen, das Leben aus der Perspektive des anderen zu betrachten und echtes Mitgefühl zu entwickeln, war meist ein Meilenstein auf dem Weg zur Vergebung erreicht. An diesem Punkt ist es wichtig, die Not des anderen anzuhören, seine Verletzungen zu sehen und zu spüren sowie seine verborgenen Motive zu ergründen.

7. Selbstreflexion

Jetzt prüfen wir, wie viel Schuld beim Verursacher liegt, wie viel beim Verursacher unserer Kindheitsverletzungen, die durch die aktuelle Verwundung reaktiviert wurden, und wie viel Schuld bei uns selbst. Wir beantworten die Frage: Was habe ich selbst dazu beigetragen, dass es zu dieser Situation gekommen ist? Dies tun wir nicht, um uns dann selbst zu kasteien oder die Schuld ganz auf die eigene Kappe zu nehmen. Hier geht es darum, die eigene Verantwortung zu erkennen, so dass wir das Zepter unserer Macht in die Hand nehmen und unseren Beitrag leisten können, um zukünftige Verletzungen zu verhindern.

8. Motivsuche

In diesem Schritt geht es um die Beantwortung der folgenden Fragen: Warum und wozu soll ich dir verzeihen? Was motiviert mich nach dieser tiefen Verletzung oder Kränkung, die Beziehung zu dir aufrechtzuerhalten?

9. Prüfen, ob »der Schuldige« unser Vertrauen wert ist

Dieser Schritt ist wichtig, wenn wir die Beziehung zu dem Menschen, der uns verletzt hat, aufrechterhalten wollen. Gleichzeitig geht es darum, an unserer eigenen Vertrauensfähigkeit zu arbeiten. Nach einem größeren Verstoß gegen unsere Würde, nach dem Brechen einer Vereinbarung, nach einem verbalen Angriff und nach jeder anderen Art von Verletzung und Kränkung verlieren wir meist erst einmal unser Vertrauen in die andere Person. Es gilt dann genau zu prüfen, ob der andere unser Vertrauen wert ist, ob es bei dem einmaligen Verstoß bleiben wird oder ob weitere große Verletzungen folgen könnten. Wenn dem so ist, ist es auch an der Zeit, Konsequenzen zu ziehen und uns gegebenenfalls aus der Gefahrenzone herauszubewegen, indem wir die Beziehung in der bestehenden Form beenden oder vielleicht sogar den Kontakt ganz abbrechen. Wenn keine neueren gravierenden Verletzungen folgen, kann sich das angeschlagene Vertrauen langsam regenerieren – bis hin zu dem Punkt, dass wir uns wieder sicher fühlen und spüren: Es war einmal und ist nicht mehr.

10. Vergessen

Wenn wir bereits ein großes Stück auf dem Vergebungsweg zurückgelegt haben, kommt der Zeitpunkt, an dem wir den Erinnerungen an das Ereignis rigoros Einhalt gebieten und unsere Aufmerksamkeit bewusst von der Wunde weglenken. Jetzt geht es darum, die giftigen Gedanken und Bilder abzuschalten und unseren Fokus auf die positiven neueren Erinnerungen – so wir denn solche gemacht haben – zu richten. Da die Energie bekanntlich der Aufmerksamkeit folgt, entziehen wir dem verletzenden Geschehen damit einfach die Energie. Dieser Schritt darf auf keinen Fall zu früh gemacht werden, denn das würde bedeuten, den Schmerz zu verdrängen und den Heilungsprozess zu stoppen.

11. Vergeben

Der letzte Schritt kann nur freiwillig und nur aus freien Stücken getan werden. Jedes Drängen, Fordern und Erwarten, dass wir doch endlich „mit dem Thema durch sein müssten“, ist an diesem Punkt kontraproduktiv, denn es schürt nur neuen Groll und wir fühlen uns unverstanden. Niemand kann uns diktieren, wann wir was zu vergeben haben. Und es darf auch ein Rest in uns übrigbleiben, der sagt: Ich weiß nicht, ob ich das jemals restlos verzeihen kann, und auch nicht, ob ich es überhaupt will.

Wer nach all diesen Schritten dazu neigt, in Selbstmitleid zu verfallen oder sich besonders gnädig zu fühlen, dem sei ein gutes Gegenmittel empfohlen: Fertige eine Liste all deiner Worte und Taten an, die andere verletzt haben, und überlege dir am besten gleich, wie du den angerichteten materiellen oder emotionalen Schaden wiedergutmachen kannst. Wenn wir uns letztlich dazu durchringen, anderen zu verzeihen, dann legen wir die Waffen bewusst nieder. Und es ist mehr noch als nur Waffenruhe. Wahres Verzeihen ist ein Friedensangebot. Es ist der Königsweg zum äußeren und inneren Frieden.

Infoveranstaltungen in der Coaching-Etage, Akazienstr. 28:
16.06.2019 um 12.30 Uhr,
02.09.2019 um 19 Uhr,
21.10.2019 um 19 Uhr
Beginn des neuen Frauen-Jahrestrainings: 18.10.2019

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