Das Enneagramm der Charakterfixierungen ist ein wirkungsvolles Instrument, das die unterbewussten Strukturen des Geistes wie eine innere Landkarte vor uns ausbreitet. Es zeigt neun verschiedene Charaktertypen auf, die nicht nur unsere Persönlichkeit, sondern auch unsere wahre Natur widerspiegeln. In diesem Gespräch zwischen der Enneagramm-Lehrerin Luna U. Müller und dem spirituellen Meister OM C. Parkin geht es um die wesentliche Unterscheidung von subjektiven und objektiven Enneagrammen und den Wert der Einbettung des Enneagramms in eine spirituelle Lehre.

Luna U. Müller: Das spirituelle Enneagramm ist eine wesentliche Grundlage für die innere Arbeit. Ist die Einbettung dieses Werkzeugs in die höhere spirituelle Weisheitslehre das, was du die spirituelle Dimension des Enneagramms nennst?

OM C. Parkin: Ja, denn die spirituelle Dimension des Enneagramms kann erst dann wirklich reifen, wenn das Enneagramm eingebettet in eine spirituelle Lehre vermittelt werden kann. Einerseits sollten dabei die tieferen spirituellen Dimensionen dieses Werkzeuges Raum haben, aber eben andererseits auch vermittelt werden, dass dieses Konzept Grenzen hat. Das Enneagramm selbst kann man nicht als eine spirituelle Lehre, auch nicht als ein spirituelles Konzept verstehen, es ist neutral. Es ist ein Konzept, das relative Wahrheiten von relativen Lügen oder, umfassender gesprochen, von Illusionen durchaus unterscheiden kann.

Das Enneagramm ist ein ziemlich genialer Spiegel, aber was ein Mensch aus diesem Spiegel herauslesen kann, hängt von der Bewusstseinsstufe des Lesenden oder des Lehrers ab, der in der Lage ist, dieses Instrument anzuwenden.

Luna: Wie würdest du dann diese Unterscheidung treffen – also die zwischen einer Einbettung in die Psychologie und dieser größeren Einbettung in spirituelle Weisheitslehren? Widersprechen die sich dann oder hängen sie in irgendeiner Weise zusammen?

OM C. Parkin: Also: Eine wesentliche Unterscheidung in den Lehren des Enneagramms ist ja die zwischen – wie die Almaas-Schule es nennt – subjektiven und objektiven Enneagrammen. Ich könnte auch sagen Enneagrammen des Nicht-Ichs und Enneagrammen des Ichs, oder ich könnte sagen, den Enneagrammen des Ichs und den Enneagrammen der Seele. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, diese Unterscheidungen zu treffen. Ich denke, dass sich da, wo der Begriff ‚Seele‘ wirklich tiefere Bedeutung findet, die tiefere Dimension zeigt. Das heißt, solange wir uns nur mit dem Enneagramm der Charakterfixierungen beschäftigen, solange ist das Enneagramm ein psychologisches System.

Wenn wir es jetzt auf bestimmte Strukturen beziehen, in denen der Mensch lebt – Schein-Realitäten –, um Realitäten eines tieferen Systems im Menschen aufzeigen zu können, das nicht vom Ich bestimmt wird, dann braucht es eben den Begriff der Seele. Vereinfacht gesagt, kann man diesen Begriff den sogenannten objektiven Enneagrammen zuordnen. Ein Beispiel für ein objektives Enneagramm ist das Enneagramm der Tugenden oder der heiligen Ideen (Anm.: Enneagramm der Tugenden und heiligen Ideen sind unpersönliche Sichtweisen auf die Realität.) Das sind objektive Enneagramme, die nichts mit dem zu tun haben, was ein gewöhnlicher Mensch als „Ich“ bezeichnet: Ich und meine Welt, meine Sorgen, meine Probleme, meine Wünsche – all das sind die subjektiven Enneagramme.

Luna: Also ist objektiv das, was über meine Ich-Welt hinausgeht…

OM C. Parkin: Das könnte man so sagen.

Luna: Eine Frage, die oft gestellt wird: Wieso ist es überhaupt so wesentlich, meine Ich-Welt so gut zu kennen? Warum ist diese Kenntnis über die Ich-Struktur, die ich ja letzten Endes gar nicht wirklich bin, überhaupt so wesentlich?

OM C. Parkin: Es handelt sich um eine Fragestellung, die offenbar die Macht des sogenannten Unterbewusstseins nicht kennt. Es geht darum, die Dimension des Unterbewusstseins ins Bewusstsein zu holen. Gewöhnliche Menschen kennen das Unterbewusstseins praktisch nicht und es wird auch von vielen Menschen unterschätzt, die beginnen, den inneren Weg zu beschreiten. Es ist eine der großen Stärken des Enneagramms, dass es das Unterbewusstsein dieser Ich-Struktur sehr klar und ungetrübt spiegelt. Die Ich-Struktur kann man auch so beschreiben: Ein kleiner Teil der sogenannten Ich-Blase des Menschen ist wie die Spitze des Eisberges, die sich über der Wasseroberfläche befindet, der große Teil befindet sich unter der Oberfläche. Den können wir erst einmal als Unterbewusstsein, als unterbewusstes Geschehen zusammenfassen, das die Macht hat über die Ich-Welt, über die Realität eines Menschen – und nicht das, was er bewusst denkt oder fühlt.

Luna: Ja, ich habe selber auch erlebt – als Teilnehmerin der Enneagrammausbildung und auch als Lehrerin –, dass es gar nicht möglich ist, dieses Wissen getrennt vom eigenen Standpunkt und der eigenen Erforschung zu vermitteln.

OM C. Parkin: Sagen wir mal so: Es ist möglich, aber es verkommt dann in gewisser Weise zu einer Form der Scheinheiligkeit, wenn ich einfach nur Wissen aus zweiter Hand weitergebe, das sich dieser Geist mental erarbeitet hat. Es ist etwas grundlegend anderes, wenn ich das, was ich als Enneagramm-Wissen vermittele, im eigenen Prozess meines Lebensweges durchdrungen habe. Das wäre dann die Vermittlung aus erster Hand. Ich bin gerade auch bei Psychotherapeuten diesem Phänomen begegnet, dass sie im Grunde angelesenes Wissen aus zweiter Hand vermitteln, dass sie mit Konzepten arbeiten, die sie nicht durch ihren eigenen Erfahrungsweg durchdrungen haben. Die Früchte sind aus Sicht des Reifungs- und Erkenntnisweges entsprechend begrenzt. Das gilt nicht nur für Therapeuten, sondern natürlich auch für denjenigen, mit dem ich in Bezug auf das Enneagramm arbeite. Der Prozess der Arbeit mit dem Enneagramm geht immer nur so weit, wie derjenige gehen kann, der mit diesem Konzept arbeitet. Er geht nicht so weit, wie das Enneagramm an sich gehen kann. Das Enneagramm an sich hat aber auch eine Grenze, es ist ein relatives Konzept und kann nichts über das Absolute aussagen.

Luna: Über die Beschaffenheit der Grenzen gibt das Enneagramm ja viele Informationen.

OM C. Parkin: Ja, das ist eine der Hauptinformationen, die das Enneagramm vermittelt: nämlich dir die Grenzen deiner Welt aufzuzeigen, die du aufrecht erhältst durch ein strategisches Abwehrsystem, das zunächst undurchdringlich zu sein scheint und dann bei präziser Anwendung von Enneagramm-Wissen immer deutlicher zu Tage tritt. Dieses scharfe Sehen ist immer der erste Schritt, denn erst das Sehen kann überhaupt die Unterscheidung hervorbringen, ob etwas Ich ist oder Nicht- Ich, also: Bin ich das oder bin ich das nicht? Wenn ich das so sage, ist das auch noch einmal ein Hinweis auf diese sehr pauschale Fragestellung, die du am Anfang genannt hast: „Warum beschäftigt ihr euch mit dem, was ihr dann letztlich gar nicht seid?“

Das ist eine vorweggenommene Fragestellung, denn eine Antwort auf diese Frage gibt es eben immer erst dann wirklich, wenn der Moment scharfen Sehens mittels des chirurgischen Instruments, das dir das Enneagramm zur Verfügung stellt, auch wirklich Unterscheidungskraft hervorbringt. Wenn du dann sehen kannst, dass das Nicht-Ich ist, dann brauchst du dich nicht mehr damit zu beschäftigen.

Luna: Wir haben über Grenzen gesprochen und dass es ganz natürlich ist, an Grenzen zu kommen. Könntest du Beispiele nennen von Grenzen aus Ego-Welten, an die jemand stößt?

OM C. Parkin: Ja, es gibt drei Grenzen, die sich aus den drei Ebenen beschreiben, die das Enneagramm aufzeigt. Die Grenzen, an denen die sogenannten Zorn-Fixierungen stehen, die haben natürlich unterschiedliche Geschichten und unterschiedliche Facetten, aber eigentlich ist es das Gleiche. Es ist immer eine Form von Widerstand, die mit der Fixierung im Zorn verbunden ist. Und dann gibt es die Gegenbewegung, die mit dem System Angst in Verbindung steht. Das sind Grenzen, die im weitesten Sinne mit einem Fluchtimpuls zusammenhängen, also einer Rückbewegung. Und eine dritte Form von Grenzen steht in Verbindung mit Wunschwelten, die Idealisierungen der eigenen Person hervorbringen, die dann wiederum in das Gegenteil kippen.

Das sind drei Kontexte, in denen Grenzen aufgezeigt werden. Es kommt in dem Moment, in dem jemand an einer Grenze steht, darauf an, ob derjenige in dem Bewusstseinsstand ist, dass er an dieser Grenze Wirklichkeit von Unwirklichkeit unterscheiden kann. Kann er das nicht, könnte es sein, dass die Grenze hart wird.

Luna: Und hier hilft ja die Kenntnis über meinen Ich-Geist, die Kenntnis, welcher Geist da eigentlich wirkt.

OM C. Parkin: Eben, und diese Kenntnis ist sehr wesentlich. Insbesondere für die modernen westlichen Menschen ist dieses Wissen sehr wertvoll, denn es bewahrt sie davor, in die Falle des Absoluten zu laufen. Also in Fallen zu laufen, in denen höheres spirituelles Wissen nur konzeptuell vom Geist verarbeitet und verstanden wird. Das ist der mühsame Aspekt des Weges: Die Macht des Unterbewusstseins zu brechen, diese Bereitschaft aufzubringen, genau da hinzusehen, wo sich doch auch kleine, hässliche Seiten der Widerstandswelt des Ichs zeigen. Das Ich ist letztlich immer eine Form von Widerstand.

Luna: Vielleicht kann die Enneagrammausbildung in Menschen die Bereitschaft nähren, auch diesen mühsamen Weg zu gehen. Ich sehe die Enneagrammausbildung der inneren Schule durch diese Einbettung in eine wirklich spirituelle Dimension, die du vorhin erwähnt hast, als etwas für mich Einzigartiges. Ich würde dich gern noch fragen: Für wen eignet sich so eine Ausbildung? Braucht jemand bestimmte innere Voraussetzungen? Ist die Bereitschaft oder ein Sich-angezogen- Fühlen ausreichend?

OM C. Parkin: Die Bereitschaft ist eine umfassende Tugend, die von größerer Bedeutung ist als angelesenes Vorwissen. Wenn wir dem unschuldigen Zustand des Kindes in uns offen begegnen können, sind wir von dem, was auch in den höheren Lehren als Bereitschaft vermittelt wird, nicht weit entfernt. Es geht um die Bereitschaft eines Systems, etwas aufzunehmen – das Kind ist hier nur eine Metapher. Es beschreibt im Wesentlichen diesen unschuldigen Aspekt der Lernfähigkeit und -willigkeit. Denn Lernfähigkeit, die Aufnahmefähigkeit von Menschen, ist begrenzt, und diese Begrenzung ist erstaunlicherweise häufig insbesondere bei Menschen anzutreffen, die bereits sehr viel Halbwissen angesammelt haben. Letztlich ist dieser Zustand der unschuldigen Lernfähigkeit von jedem Menschen zu erlangen, der ein gewisses Maß an Selbstaufrichtigkeit mitbringt. Ich würde sagen, so eine Ausbildung kann nur von Menschen gemacht werden, die selbst auf irgendeine Art und Weise auf dem inneren Weg sind, so dass sich die Vermittlung des Enneagramms aus ihren eigenen inneren Erfahrungen speist. Dann ist das eins, dann ist das kein getrennter Zustand mehr.

Die Autoren/innen

OM C. Parkin ist Weisheitslehrer, Philosoph und Buchautor, Lehrer des Enneagramms und Begründer der Enneallionce – Schule für innere Arbeit. OM vermittelt zeitloses, von Kultur und Religion unabhängiges Wissen, das den Menschen eine universelle Lehre nahebringt, und begleitet sie auf dem inneren Weg zum essentiellen Kern ihres Seins. OM C. Parkin hat das Instrument des Enneagramms nach seiner eigenen Ausbildung zu Beginn der 90er Jahre in der inneren Arbeit mit Schülern des Weges vertieft und verfeinert. Seine tiefen Einblicke in die menschliche Geistesstruktur gibt er nach alter Tradition mündlich weiter. www.om-c-parkin.de

Luna U. Müller ist Lehrerin für innere Arbeit und das Enneagramm. Sie begleitet Menschen auf ihrem inneren Weg in Gruppen, Einzelsitzungen und Heilkreisen. Das Wissen um das spirituelle Enneagramm sieht sie als Grundlage für die Selbsterforschung, was in viele ihrer Seminarthemen mit einfließt. www.luna-mueller.de

Detaillierte Informationen zur beginnenden Enneagramm- Ausbildung der Enneallionce unter www.enneagramm-ausbildung.de
Informationen zu weiteren Veranstaltungen der Enneallionce- Schule für innere Arbeit unter www.innere-Schule.de

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