Mystik und Trauma gehören aus Sicht des Mystikers zusammen. Auch die neuesten Erkenntnisse der Psychologie zeigen, dass es eine sehr starke Übereinstimmung zwischen Mystik, Energetik und Traumatherapie gibt. Tatsächlich wirken moderne Trauma-therapeutische Verfahren und Mystik synergistisch und sind vortreffliche Partner, die sich wechselseitig darin verstärken können, erstarrte Areale zu kontaktieren, kristallisierte Energie – die sich oft in Form von Schmerz äußert – in Bewegung zurückzuführen. Sie sind fähig, die Synchronizität von Körper, Herz und Geist wieder herzustellen und dadurch die Entwicklung des Menschen wieder in Fluss zu bringen.

Von Thomas Hübl

Seit Jahrtausenden gibt es Menschen, die sich mit der Erforschung von Innenräumen und der Natur des Bewusstseins aus einer Introspektion heraus beschäftigen. Viele von ihnen haben dieser Erforschung ihr ganzes Leben gewidmet. Einige dieser Menschen haben, in unterschiedliche kulturelle Gewänder gekleidet, Berichte hinterlassen von durchschlagenden Bewusstseinserfahrungen, -erweiterungen und Erleuchtungserlebnissen. Auch wenn es immer wieder – und manchmal auch zu Recht – kontroverse Annahmen über Religion an sich gibt, so haben doch alle großen Traditionen, ob Zen-Buddhismus, Hinduismus, die Kabbala im Judentum oder andere, einen mystischen Kern.

Und dieser Kern, das wache Bewusstsein, das von Generation zu Generation in der Tradition weitergegeben oder vermittelt wurde – oftmals von Lehrer zu Schüler und Lehrer zu Schüler –, ist wie ein Kabel, das „Elektrizität“ leitet. Eine Bewusstseinskraft, die nur durch Beziehung und Bewegung verstanden werden kann. Dieses Potenzial der Mystik lässt sich für die Bewältigung von Traumata nutzen. Was wir Mystiker oft den ganzen Tag machen, ist ja, als würden wir „elektrische Leitungen“ einziehen und Abflussrohre wieder aufmachen, damit der Fluss in den Bereichen reduzierter Bewegung wieder hergestellt werden kann.

Wir machen also im Prinzip ganz viel energetische Heilarbeit, indem wir den gesamten inneren Bewusstseinskörper wieder so vernetzen, dass das Licht – Licht hier als eine Metapher für Bewusstheit – wieder den gesamten Körper durchfluten kann.

Verkörperte Spiritualität – Integrieren statt abspalten

In der asketischen oder monastischen (mönchischen) Tradition ist die Transzendenz des Egos das Ziel, um zu einem Erleuchtungszustand zu kommen. Für Menschen, die in einer Kultur leben, während sie spirituell praktizieren, braucht es – neben einer tiefen spirituellen Praxis – eine fundierte Schattenarbeit, die sie verwurzelt und die Herausforderungen des täglichen Lebens annehmen lässt. Das mag zunächst paradox erscheinen, doch in meinem Verständnis von einer zeitgemäßen Verkörperungsmystik ist die Transzendenz des Egos und der gesunde Aufbau des Willens kein Widerspruch.

Die verkörperte Spiritualität ist keine „Umgehungsstraße“ für Schwierigkeiten im Leben, sie spaltet Emotionen nicht ab, sondern bezieht sämtliche Gefühle mit ein. Sie ermöglicht eine tiefere Anbindung an Gott (oder wie immer wir eine tiefere Anbindung ans Erwachen für uns nennen) und zugleich eine tiefere Erkenntnis von Kulturarchitektur, also dem Einfluss unseres inneren Bewusstseinsraumes auf unser Kulturerleben. Viele Menschen gehen jahrelang zum Psychotherapeuten, doch bei einigen lösen sich die Grundprobleme nicht auf – gleichsam wie in einigen spirituellen Bewegungen die Schattenthemen nicht adressiert werden, was zu immerwährenden Problematiken führt.

Die Erweiterung der psychologischen Arbeit um die spirituelle, transpersonale Dimension kann die Landkarte der Bewältigungsmöglichkeiten vergrößern und als Ressource für Heilung genutzt werden – und umgekehrt.

Demut und Hingabe statt Schmerzvermeidung

Wir leben in einer Schmerzvermeidungskultur. Für viele Menschen scheint der perfekte Zustand die Illusion zu sein, dass niemand mehr irgendein Anzeichen von Schmerz spürt. Doch genau wie Freude und Leichtigkeit sind auch Probleme, Leid und Schmerz Teile unseres Lebens. Es braucht sogar gewisse Spannungen, um uns weiterzuentwickeln, und es gibt immer etwas, das wir nicht verstehen oder das sich nicht erfüllt. Es kann nicht darum gehen, alle unangenehmen Symptome psychotherapeutisch wegzubehandeln oder wegzumeditieren. Vielmehr müssen wir uns darum kümmern, schmerzhafte Erfahrung zu integrieren, damit wieder mehr Lebensenergie zur Verfügung steht. Gleichzeitig braucht es immer auch Demut, zu wissen: Mein Leben ist eingebettet in eine größere/höhere Dimension, es bleibt verletzlich, und es wird immer Herausforderungen geben, denen ich unterlegen bin.

Auch in der Spiritualität erscheint ja oft die Frage „Ja, wie lange muss ich denn noch praktizieren?“ oder „Wie lange muss ich denn noch Schattenarbeit machen?“ Doch auch diese Fragen sind ja nur ein Ausdruck der Resistenz gegen das, was ist. Wenn ich mir immer nur die Frage stelle „Wann ist es denn zu Ende?“, dann spiele ich ja immer nur in meiner Begrenzung, in meiner Endlichkeit. Für Menschen, die sehr viel Heilung brauchen, weil ihnen sehr viel Traumatisches widerfahren ist, ist es natürlich wichtig, zunächst Entspannung und Erlösung von Symptomen zu erfahren. Doch irgendwann, ab einem gewissen Grad von Integriertheit, können wir an einen Platz in uns kommen, an dem das nicht mehr die erste Priorität haben muss.

Dann kann das Gehen als solches und die Liebe, die sich im Gehen mit allem, was ist, entfaltet, zu unserer höchsten Priorität werden. Und wenn wir aufhören, Unbequemes in uns selbst zu vermeiden, dann hören wir auch auf, das in anderen weghaben zu wollen. Dann entfaltet sich Liebe, weil wir selbst angefangen haben, in Liebe zu leben. Das Paradoxe nicht mehr auflösen zu müssen, alle Zustände in unserer Liebe beheimaten zu können, ist eine sehr hohe Funktion des Bewusstseins. In der Mystik sagen wir „We are walking forever“, also „Wir gehen für immer“. Ich gebe die Endlichkeit meines Weges hin an das, was unendlich ist. Therapeuten, die an einem Platz in sich selbst ruhen, an dem sie Gegensätze beheimaten und sich ganz in eine Erfahrung hineinstellen, können auch in einer viel umfassenderen Qualität mit den Menschen arbeiten, die zu ihnen kommen.

Schatten-Verneinung als kollektive Dynamik

Doch die Kultur der Schmerzvermeidung hat nicht nur eine individuelle, sondern auch eine gesellschaftliche Dimension. Die Energie von Millionen Massenmorden über Jahrhunderte muss ja irgendwo hin. Ich glaube, dass Generationen um Generationen diese nicht erlösten Energien immer weitertragen, und es gibt inzwischen auch große Forschungsprojekte, die sich damit beschäftigen, wie Transgenerationstraumata über die Epigenetik von einer Generation zur nächsten weitergegeben werden.

Dies tiefer zu erforschen, kann enorm viel zum Verständnis von Krankheitsdynamiken beitragen, die unsere Krankenhäuser füllen. Unser kulturelles Heilungspotenzial liegt im Verständnis für kollektive Trauma-Dynamiken. Wenn wir uns dazu Prozesse in Großgruppen genau anschauen, entdecken wir zum Beispiel einen ganz speziellen Ablauf: Immer dann, wenn wir an den Punkt der Schatten-Verneinung kommen, wird eine tiefe Schwere im Raum fühlbar. Ich gehe davon aus, dass diese Schwere ohnehin 24 Stunden am Tag in unserem Nervensystem stattfindet, nur ohne dass wir wissen, dass das passiert. Das heißt, dass viele von uns – wir sind ja hineingeboren in eine kollektive Dynamik, die wir als normal ansehen – mit einer schweren Decke herumlaufen. Und weil das immer so war, wissen wir gar nicht, wie es ohne diese schwere Decke ist.

Erst wenn irgendwann jemand zu uns sagt: „Okay, was ist denn, wenn man die Decke abnimmt?“, wenn also diese Beschwerung aus unserer kollektiven Verneinung wegfällt, sehen wir plötzlich, was denn da noch an Leben sein kann. Man muss sehr bewusst sein, um sich langsam aus den kulturellen Gewohnheiten und Verständigungen herauszuschälen, die uns prägen. Aber wenn wir das erforschen, tun sich vollkommen neue Welten auf. In der Mystik sehen wir, dass die Zukunft die Kraft hat, die Vergangenheit umzuschreiben. Unser Reisegepäck aus Schmerzen, Ängsten, Scham und anderen unintegrierten Energien der Vergangenheit, das jetzt noch Einfluss auf unser Leben hat, kann transformiert werden. Und wenn das Beste aus den Disziplinen Mystik, Psychotherapie und Wissenschaft zusammenkommt, ergibt sich daraus nicht nur eine enorme Chance für persönliche Weiterentwicklung, sondern auch für die Erlösung jahrhundertealter kollektiver Schatten.

2 Responses

  1. Sadhu
    Mystik ist der Schlüssel

    Für mich als spirituellen Simpel, ist dieser Text etwas schwer nachzuvollziehen.
    Was mir hier primär abgeht, dass ist erstmal eine bodenständige Begriffserklärung.
    Was ist den überhaupt Mystik. Bevor ich mich in eine Anwendung stürze, bei der ich letzten Endes immer von einer Führung abhängig bin.
    Mir sind 4 Worte aufgefallen, die es doch verdienen in so einem Text, zumindest in einem verständlichen Zusammenhang erklärt zu werden. Mystik, Energie, Trauma und Ego.
    Vielleicht kann ja ich etwas in simpleren Worten und Zusammenhängen anbieten.

    Mystik ist eine/die grundlegende Naturgesetzmässigkeit. Mystik findet immer statt, egal ob ich sie wahrnehme oder auch nicht.
    Der Vorteil Mystik wahrzunehmen, liegt darin, einen direkten Einfluss auf das eigene Leben tätigen zu können. Da das bei einem falschen Verständnis der Schöpfungsprozesse natürlich in einem wirklich bösen Desaster enden kann, ist gerade dort ein entsprechendes Wissen notwendig. Mystik beschreibt den Prozess einer Verbindung zwischen einer Energiequelle (Seele) und einem diese umgebende komplexe Information (diese wird z.B. in Indien Karma genannt)
    Das Resultat ist in drei Erscheinungen zu sehen. Dem flexibelsten, dem Geist – dem etwas nachhaltigerem, dem Fühlen – und dem relativ fixierten, der Materie.
    Die komplexe Information ist nicht direkt wahrnehmbar. Allerdings ist unsere individuelle Existenz ein relativer Bestandteil dieses informativen Komplexes.
    Wenn ich z.B. den Gedanken, das Gefühl habe, Geld zu benötigen, kann man schlussfolgern, dass der aktive Teil meines informativen Komplexes die Info trägt, dass ich kein Geld habe. Um den Notwendigkeiten, die durch den Intellekt wahrgenommen werden können, dass z.B. in dem jetzigen Lebensabschnitt mehr Geld benötigt wird, gerecht zu werden, ist es wesentlich sinnvoller an den Ursprung der Kreation/Schöpfung Hand anzulegen. Z.B. dadurch, dass ich tief in mir meinen Reichtum wahrnehme.
    Die Herausforderung, ist natürlich die, dass das wahrnehmbare Bedürfnis jetzt Geld zu benötigen, einen grundlegend andern Klang hat, als wie das, was zur Kreation notwendig ist. Wir sind auch nicht in der Lage etwas zu erzeugen, sondern wir müssen es auf eine gewisse Art und Weise aus dem grossen Pool der Möglichkeiten/Infos, anlocken. Dies findet durch eine Art innerem Gesang statt. Schon Jesus hat darauf hingewiesen, das der innere Klang von grosser Bedeutung ist. Dadurch, dass man einem Verursacher von Störungen vergibt, wird man auch nicht von dessen kommunizierter Information beeinflusst.
    Wir sollten nicht wegen der Aussenwelt Gutes tun, vergeben oder positiv Denken, sondern nur für die eigene Entwicklung tätig sein. Die positiven Effekte für die Umwelt geschehen von alleine.
    Der dritte Punkt – Mystik ist ja der kreative, schöpferische Prozess, der über die Verbindung von Energie und Information definiert wird – ist das Traumata.
    Der Gesang, oder die innere Musik die ich angesprochen habe, ist eine mehrdimensionale Struktur, die div. Informationen kombiniert. Ein Trauma ist schlichtweg eine Störung in dieser Struktur. Das der Autor Klänge als Werkzeug zur Regulierung anbietet, ist für mich mehr als wie nachvollziehbar. Auch, dass er die Notwendigkeit zu einer 100% en Toleranz gegenüber sich selbst thematisier – „Schattenverneinung“ – ist für mich mit meinem Bild von Mystik stimmig.
    Wir sind ja nicht das, was wir wahrnehmen können, sondern wir sind ein Produkt eines natürlichen Prozesse, Mystik, der durch das anlocken strukturierter, komplexer Informationen durch einen innerer Gesang, entsteht.
    Wenn man wissen will, was man gerade in sich für ein Lied angestimmt hat, muss man sich nur sein Leben anschauen. Wenn man was auf die Richtige Art und Weise ändern möchte, darf man sich nicht anlügen, z.B. durch Verdrängung der dunklen, unstimmigen Aspekte des eigenen Seins.
    Das 4te Wort, welches eine Beschreibung benötigt, dass ist der Ego.
    Der Ego ist der Rahmen, der sich um die der Seele umgebenden komplexen Information bildet, um diese vor Störung zu schützen. Der EGO ist notwendig, bis man anfängt mit der Mystik zu arbeiten. Nicht das, was der Ego schützt oder beinhaltet, ist problematisch, sondern die stabile Struktur des Ego´s.
    Um den Ego fliessend in eine multidimensionale Sichtweise zu transferieren, ist Demut eins der wirkungsvollsten Hilfsmittel.

    Noch ein Wort zu Israel. Die Juden sind eins der besten Beispiele, für die Funktionsweise der Mystik. Schon vor Jesu Geburt, haben sie angefangen die Mystik zu missbrauchen. Wenn man das Opferdasein unserer jüdischen Mitmenschen – natürlich nicht alle, aber generell kann man das schon so sehen – betrachtet, ist es kein Wunder, dass ihnen so viel Leid geschieht. Juden müssen lernen zu vergeben, um sich von dem kollektiven Bild, einem sich manifestierenden informativen Komplexes des Leids zu lösen.
    Es wird sehr viel über Spiritualität, Religion oder Bewusstseinsarbeit in dieser Welt thematisiert. Für mich hat nur ein Thema einen echten Bezug zu unserer – Menschheit – Jetztzeit. Das ist die Mystik. Nur die Mystik ist in der Lage den verwirrten Moslems zu beweisen, dass eben keine 72 Jungfrauen auf sie warten, wenn man Bomben schmeisst. Wir werden immer das bekommen, was wir in uns anstimmen.
    Der Gesang, der Bomben und Tod hervorbringt, wird auch auf allen anderen Ebenen entsprechend wirksam. Die Lösung, mit den momentanen Herausforderungen durch Moslems umgehen zu können, ist die nachhaltige Herausarbeitung dieses mystischen Prozesses. Wenn man es versteht, versucht man einen Klang in sich, für sich zu finden, der auch für die Mitmenschen mehr als wie geniessbar ist.
    Ich bin wirklich froh drum, dass Menschen wie Thomas Hübl in diesem Bereich tätig sind.
    Ich möchte auch alle die an einem spirituellen Wachstum und einer Wahrheit interessiert sind, aufrufen, echt und wahrhaftig so einen Weg zu gehen. Die Mystik verlangt diese Echtheit. Man muss auch nicht mehr machen, denn diese Mystik bringt immer das hervor, was man im inneren auswählt. Auch ein spirituelles oder religiöses Leben.
    (Stigmata). Man muss also nicht jeden Kurs besuchen, alles was an Wissen angeboten wird umsetzen, das Verständnis des mystischen schöpferischen Vorgangs ist wahrlich genug.
    Zum Schluss noch einen Sloka aus der Bhagavat Gita. Den einzigen der für mich Mystik beschreibt.
    4:18
    Wer unter Handeln, Nichthandeln,
    und unter Nichthandeln Handeln versteht,
    ist weise unter den Menschen und wird das Ziel seines Lebens erreichen.

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    • Sadhu

      Da hat sich doch tatsächlich ein Fehler eingeschlichen.

      —„Wir sind ja nicht das, was wir wahrnehmen können, sondern wir sind ein Produkt eines natürlichen Prozesse, Mystik, der durch das anlocken strukturierter, komplexer Informationen durch einen innerer Gesang, entsteht.“—

      sollte eigentlich heissen —„Wir sind ja nicht das, was wir wahrnehmen können, denn das ist nur ein Produkt, eines natürlichen Prozesse, Mystik, der durch das anlocken strukturierter, komplexer Informationen durch einen innerer Gesang, entsteht.“—

      Ich unterscheide grundlegend zwischen dem was ich wirklich bin – So Ham – ich bin das , nämlich eine Seele die durch einen göttlichen Prozess – Mystik – etwas kreiert,
      und dem was ich im Hier und Jetzt als das gemeinläufige „Ich“ wahrnehmen kann.

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