Das gegenwärtige politisch-gesellschaftliche System, in dem wir leben, ist eines, das nach wie vor – bewusst und unbewusst – eine Vorherrschaft der Weißen und Reichen untermauert. Dieses System könnte sich nicht aufrechterhalten, wenn es seine Werte von Konkurrenz, Kontrolle und der Überlegenheit weißer Menschen nicht in uns selbst verankert hätte. Ein solches System, das einen gesunden menschlichen Selbstwert, der sich in liebevoller Zwischenmenschlichkeit äußert, dem Egoismus geopfert hat, beruht allerdings auf traumatischen Erfahrungen, vor deren Wiederkehr sich seine „Erfinder“ schützen wollten. Für eine gesamtgesellschaftliche „Heilung“ braucht es daher neben individueller Traumaaufarbeitung und der Demaskierung der Glaubenssätze, die in unserer Sozialisierung verinnerlicht wurden, die Erfahrung anderer und neuer Formen des Zusammenlebens, durch die wir uns wieder in Vertrauen und Wahrheit begegnen können.

Ein Interview von Christa Dregger mit dem weltweit agierenden Aktivisten, Netzwerker und Theoretiker für eine friedliche Umwälzung Martin Winiecki.

Du beschäftigst dich schon lange mit dem Thema Systemwechsel. Worin besteht der anstehende Systemwechsel?

Martin: Ganz vereinfacht gesagt: Der Systemwechsel besteht darin, unsere menschlichen und gesellschaftlichen Systeme wieder in Überstimmung zu bringen mit den Prinzipien, der Logik und den Zyklen des Lebens selbst. Wir stehen im Moment an einer gefährlichen Grenze von Natur- und Klimakatastrophe, gesellschaftlichem Zusammenbruch und wieder aufkeimendem Faschismus. Diese Krisen sind kein Zufall, sondern Symptome eines Systems, welches der Logik des Lebens diametral entgegen gerichtet ist. Es bezahlt «Fortschritt » durch kontinuierliche koloniale Gewalt und einer nie da gewesenen, sich immer weiter beschleunigenden Ausbeutung natürlicher Systeme. Natürlich spreche ich vom Kapitalismus, aber der Begriff allein greift meiner Meinung nach nicht tief genug, denn der Kapitalismus selbst beruht auf anderen unterdrückerischen Systemen wie dem Patriarchat und der weißen Vorherrschaft («white supremacy»). Er ist lediglich die wirtschaftliche Seite der Moderne. Um das System wirklich zu verändern, brauchen wir ein ganzheitliches, intersektionales Verständnis der Strukturen, Gedankenfelder und psychischen Kräfte – einschließlich derer in uns selbst –, die es ständig weiter am Laufen halten. Und wir brauchen gleichzeitig eine realistische Vision für eine globale Alternative.

Was in der Weltsituation macht dir am meisten Sorgen, welche Nachricht findest du besonders alarmierend?

Martin: Das ist schwer zu beantworten, denn es gibt so viele alarmierende Krisen. Für mich ist es weniger eine bestimmte Nachricht als das Muster, was sich in der globalen Zusammenschau ergibt. Durch das Studium untergegangener Reiche wie das der Maya oder das von Rom nennen Historiker typische Zeichen für den bevorstehenden Kollaps von Zivilisationen: Übernutzung natürlicher Ressourcen, Abholzung der Wälder, plündernde Eliten, soziale Ungleichheit, totalitäre Machtbestrebungen. All diese Merkmale treffen auf unsere heutige Gesellschaft zu, mit dem einzigen Unterschied, dass wir zum ersten Mal vor dem Zusammenbruch eines weltweiten Systems stehen. Und das Problem ist, dass fast alle von uns mit der Erwartung aufgewachsen sind, dass dieses System für immer stabil bleiben und weiter wachsen wird. Wir sind schlecht vorbereitet auf das, was vor uns steht.

Was könnte diesen Systemwechsel auslösen? Welche Ereignisse oder Akteure könnten ihn bewirken?

Martin: Ich glaube nicht, dass das «revolutionäre Subjekt» heute in einer bestimmen einzelnen Gruppe oder Bewegung besteht. Die «Avantgarde» ist, in einem ökologischen Gleichnis benannt, nicht eine einzelne Art, sondern das Myzel, das die verschiedenen Einzelwesen miteinander vernetzt und zu einem starken Ökosystem der Veränderung macht. Wir brauchen diese vernetzte Intelligenz und ein ganzheitliches Denken, um uns einen Systemwechsel überhaupt vorstellen zu können. In meinem Verständnis gibt es aber «Schlüsselarten» (keystone species) in diesem Ökosystem der Veränderung. Zuallererst sind das die indigenen Kulturen und Wissensträger sowie Wissensträgerinnen, die Beschützer und Beschützerinnen von etwa 80 % der verbleibenden Artenvielfalt weltweit. In ihrem unvorstellbaren Widerstand haben sie Kulturwerte und Praktiken der Verbundenheit bewahrt, ohne die es keine Zukunft gibt. Der globalisierte Kapitalismus steuert, als direkter Nachfahre des europäischen Kolonialismus, auf die vollkommene Ausrottung aller dieser ursprünglichen Kulturen zu. Wir brauchen einen festen Ring der Solidarität, um dies zu verhindern. Eine weitere Schlüsselart sind die sozialen Bewegungen, vor allem im globalen Süden, die die Geschwindigkeit der Vernichtung verlangsamen und an vielen Stellen (wie etwa die Landlosenbewegung in Brasilien oder die Bauernbewegung in Indien) Strukturen außerhalb des Kapitalismus entwickeln.

Durch ihren Widerstand haben marginalisierte Gruppen ein Wissen von Gemeinschaft, Solidarität, Autonomie und Resilienz bewahrt, welches essentiell für den Systemwechsel ist. Wir im Westen können sehr viel von diesem Bewegungen lernen. Sie könnten darüber hinaus, wie Alnoor Ladha, der Vordenker einer neustrukturierten Welt, sagt, die «Infrastruktur für den Übergang zum Post-Kapitalismus» aufbauen. Damit das möglich wird, ist ein weiteres Element unabdingbar: Regenerative Gemeinschaften und Ausbildungszentren, die eine solche Infrastruktur möglichst umfassend entwickeln, modellhaft vorleben und das Wissen für ihren konkreten Aufbau weitergeben. Solche Gemeinschaften sind soziale, ökologische und ökonomische Experimente. Eines dieser Versuche ist das Projekt der Heilungsbiotope. Ich selber lebe in Tamera, dem Zentrum des Projekts in Portugal. Hier arbeiten wir an einem regenerativen Modell, in dem die Regeneration von Ökosystemen mit Gemeinschaftsaufbau, Heilung in Liebe und Sexualität, gewaltfreier Kooperation mit Tieren und einem freien Kinderaufwachsen zusammenkommt.

Gibt es Schlüsselfaktoren oder Kipppunkte – die dir, wenn sie geschehen, Hoffnung machen werden?

Martin: Wir können den Kapitalismus nicht, wie die Linke noch bis hin zur Anti-Globalisierungsbewegung träumte, auf einmal weltweit umstürzen. Dafür ist er viel zu komplex und gut organisiert. Wir können aber, wie der visionäre mexikanische Vordenker Gustavo Esteva sagte, autonome Zonen schaffen, die sich seiner Logik entziehen und darin alternative, autarke Systeme entwickeln, die sich vom Kapitalismus unabhängig machen. Darauf beruht im Wesentlichen meine Hoffnung für einen Systemwechsel. Wir haben dafür auch schon starke Beispiele, etwa bei den Zapatisten in Chiapas oder der kurdischen Befreiungsbewegung in Rojava (Nordost-Syrien). Je mehr solcher Experimente sich entwickeln und je mehr sich diese vernetzen, umso besser stehen unsere Chancen weltweit. Der globale «Kampf», wenn man so sagen will, ist der Clash zwischen Zentralisierung und Dezentralisierung, kolonialer Macht und authentischer Kultur, Imperium und Gemeinschaft, Angst und Vertrauen. Wir können das alte System nur überwinden, wenn wir neue Systeme entwickeln, die komplexer sind und sowohl menschliche als auch ökologische Bedürfnisse besser erfüllen.

Wir sehen immer wieder mutige Anführer, Präsidenten, Bewegungen – die aber meistens wieder verschluckt werden. Denken wir einmal an die verschiedenen linken Regierungen in Südamerika. Was für Eigenschaften und Qualitäten brauchen sie, damit sie sich wirklich durchsetzen und etwas Neues kreieren?

Martin: Systemische Veränderung auf Regierungsebene zu bewirken, halte ich für extrem schwierig. Denn bestehende staatliche Strukturen – besonders in den Ländern des globalen Südens – sind in einer Weise von neokolonialen, kapitalistischen Kräften abhängig, dass man denen kaum entkommen kann. Nehmen wir beispielsweise Bolivien: Von 2006 bis 2019 regierte dort der erste indigene Präsident Evo Morales. Er verankerte die Rechte der Mutter Erde in der Verfassung, musste aber weiterhin die natürlichen Rohstoffe des Landes auf dem Weltmarkt verkaufen, um seine Staatskasse flüssig zu halten und soziale Programme bezahlen zu können. Er versuchte, die Verträge mit multinationalen Konzernen zu kündigen. Aber die drohenden Strafzahlungen hätten Bolivien zum finanziellen Bankrott geführt. Schließlich wurde er in einem Staatsstreich der Macht enthoben, die neue Regierung hat dann Elon Musk und Bill Gates die Rechte für die reichen Lithium-Vorkommen verkauft. Ich glaube, dass echte und nachhaltige systemische Veränderungen von der Basis ausgehen, d.h. im Aufbau von dezentralen, bioregionalen, autarken Systemen. Diese Systeme werden ermöglicht durch Wasser-Retentionslandschaften und Renaturierung, regenerative Landwirtschaft, biologische Samenbanken, erneuerbare dezentrale Energiesysteme und SchenkÖkonomien. Je mehr solche Systeme real entwickelt werden, umso mehr haben progressive Bewegungen eine Basis für politische Veränderung. Sie können aber auch mithelfen, diese zu entwickeln. Ohne diese Grundlage sind sie den imperialistischen Mächten relativ hilflos aufgeliefert.

Der äußere Systemwechsel braucht ja auch einen inneren Systemwechsel – was will/ muss im Inneren heilen oder sich ändern, damit wir fähig sind zum Systemwechsel?

Martin: Wie der Ökoanarchist Murray Bookchin sagte, war kein Machtsystem so erfolgreich in der Unterwanderung der Zwischenmenschlichkeit wie der Kapitalismus. Das System könnte sich äußerlich nicht aufrechterhalten, wenn es seine Werte von Konkurrenz und Kontrolle nicht in uns selbst verankert hätte. Oder nehmen wir das System der weißen Vorherrschaft. Es beruht auf – meist unbewussten – Gedanken der Überlegenheit und Vormachtstellung weißer Menschen und ihrem Anspruch auf Privilegien und soziale Kontrolle. Solche Gedanken verinnerlichen eigentlich fast alle weißen Menschen, die in westlichen oder kolonialen Gesellschaften aufwachsen, und geben diese folglich weiter. Schwarze, Indigene und Menschen of Color erleben die Macht weißer Sozialisierung tagtäglich durch andauernde Aggressionen und Diskriminierungen, die meistens sehr vorhersehbaren Mustern folgen. Dadurch erzeugt sich das System in der zwischenmenschlichen Interaktion immer wieder neu, es braucht wenig staatliche Macht. Weiße Menschen sind aber meistens vollkommen ahnungslos, was die Folgen ihrer Handlungen angeht, und reagieren schockiert und verletzt, wenn sie darauf angesprochen werden.

Das liegt daran, dass die antrainierten Gedanken von Überlegenheit eine innere Erfahrung von Unsicherheit, Machtlosigkeit und Angst kompensieren. Mit anderen Worten: Unterdrückerische Systeme wie weiße Vorherrschaft und Kapitalismus berufen auf dem Trauma, welches Menschen in Extremsituationen wie Krieg und Vertreibung oder auch in «ganz normalen» Familien und Schulen erfahren. Trauma ist die Erfahrung von etwas, was unser seelisch-körperliches System überwältigt. Wir lernen dann instinktiv, uns vor der Wiederkehr dieser Erfahrung zu schützen. Wir leben unter einer dauernden, irrationalen Drohung von Gefahr und brauchen bestimmte Bedingungen, um uns sicher zu fühlen. Das Trauma wird dann zu einer gesellschaftlichen Kraft, wenn es sich mit Glaubenssätzen und Weltanschauungen verbindet, die bestehende Machtverhältnisse untermauern.

Um den Systemwechsel bewirken zu können, müssen wir Bewusstsein über die verschiedenen Strukturen entwickeln, durch die wir das System in uns neu erzeugen. Wir brauchen eine kritische Auseinandersetzung mit den Glaubenssätzen, die in unserer Sozialisierung verinnerlicht wurden, und gleichzeitig eine Heilungsarbeit an den Traumata, durch die wir an diesen Gedanken festhalten. Und ich glaube, dass es für all das andere Formen des Zusammenlebens braucht, durch die wir uns wieder in Vertrauen und Wahrheit begegnen können.

Die Autoren

Christa Dregger-Barthels

Die Journalistin und Netzwerkerin Christa Dregger-Barthels – auch bekannt als Leila Dregger – lebt nach 20 Jahren Tamera (Portugal) wieder nahe Berlin und unterstützt Gruppen bei der herausfordernden Arbeit, belastbares Vertrauen ins Leben aufzubauen. Sie ist zudem in den Aufbau einer Gemeinschaft, einer Anlaufstelle für das Projekt Terra Nova sowie eines Begegnungszentrums eingebunden – und freut sich dabei sehr über Unterstützung.
Kontakt: leila.dregger@snafu.de

Martin Winiecki

leitet das Instituts für globale Friedensarbeit. Er schreibt Artikel und arbeitet im Netzwerkaufbau,
an Kampagnen, der Organisation internationaler Veranstaltungen und unterstützt Tameras Onlineausbildung. Kontakt über martin. winiecki@tamera.org

Nächster Kurs: ein Retreat für Systemwechsel-Aktivisten an vorderster Front, Organisatoren und andere Aktive. 10 Tage erfahrungsorientiertes Eintauchen in die Gruppe, Nahrung für Körper, Herz, Geist und Seele, Rituale und Gespräche an den Rändern des eigenen Aktivismus und Lebens.
Mehr Infos: www.tamera.org/events/activist-retreat-nourishing-the-revolution-2023

 

Eine Antwort

  1. Holle
    Symptome

    Der Artikel liest sich ähnlich wie der Bericht eines Mediziners. Wir haben da ein paar Symptome und bieten eine Lösung für die Beseitung derer an. Danach wird es nicht unbedingt besser, aber wir haben zumindest etwas getan. Hinzu kommen noch der Selbsthass auf seinen „weißen Körper“, weil andere die ähnlich aussehen so schlecht sind. Eine wohl sehr beengte Sichtweise, wie sie letztlich wohl alle Arten von Religion mit sich bringen, um dann in irgendwelchen Dogmen zu erstarren.
    Erstaunlich, dass es nach über zweitausend Jahren immer noch nicht gelungen ist, über den Tellerrand zu schauen. Auch heute noch wären viele bereit „ihn“ ans Kreuz zu nageln. Mit der Grund warum ihn die Kirche dort immer noch zur Schau stellt, nämlich als Abschreckung für alle selbständig denken Menschen, obwohl er ja im Grunde auferstanden ist. Helfen würde wohl auch, die eigene Sichtweise etwas weniger zu fokkusieren und etwas mehr herauszuzomen für einen breiteren Blickwinkel. Doch leider sind die Menschen wie in allen Zeiten, viel zu gut konditioniert worden, um aus ihrer bunten Blasen auszubrechen. Und so funktioniert auch heute noch das bekannte Teile und Herrsche…!
    Der größte Teil der Menschen hat leider immer noch nicht verstanden, dass die sogenannte Seele immer wieder hier im stofflichen Körper inkarniert, um ihre Entwicklung voranzutreiben, von der Dunkelheit ins Licht. Aber nachdem nicht nur die katholische Kirche, sondern beinahe alle Religionen in ihrer Unwissenheit ein so schlechtes Bild von Gott gezeichnet haben, ist es natürlich kein Wunder, wenn auch John Lennon (Imagine) sich keinen Himmel vorstellen konnte.
    Auch die östlichen Religionen, sind nicht wesentlich weiter und die Meisten suchen dort nicht Gott, sondern lediglich sich selbst. Da sie dabei ihr Ego, also ihr Ich von sich abzutrennen versuchen, werden auch sie sich ihren Glaubensmustern verlieren. Es geht eben nicht darum, die Dinge die mir nicht gefallen zu verdrängen, weil sie an irgendetwas Schuld sind, sondern es geht vielmehr das alles zu vereinen. Doch wie schon erwähnt, funktioniert das Teile und Herrsche überall wunderbar.
    Wir werden hier mal als Kapitalist und ein anderes Mal als Bettler geboren, um unsere Erfahrungen zu machen, die dann irgendwann zur Erkenntnis wird (Bewusstwerdung). Denn nur so kann man sich wirklich Wissen aneignen. Oder anders ausgedrückt, nur weil ich ein paar Kochsendungen geschaut habe, kann ich dennoch nicht kochen…!
    Schuldzuweisungen machen deshalb keinen Sinn und ich denke das ist wohl auch der Grund, warum selbst solche Projekte wie Tamira scheitern werden, ebenso wie alle anderen -ismen. Lassen wir bei der wahren Revolution das R weg und kommen in die Evolution. Dabei sollten wir aber wie ein Waldbauer vorgehen, der alle Bäume für seine Nachkommen pflanzt. Ich denke wir sollten dabei die jungen Menschen zum selbständigen Denken animieren und nicht in lediglich neue Ideologien zwingen. Keiner kennt den Seelenpaln seines Gegenüber und warum er die Dinge so handhabt wie er es tut. Wer allerdings ohne Fehler ist, der darf gerne den ersten Stein werfen. Und wer es schafft, einer gewachsenen Gemeinschaft alle Wurzeln abzuhacken, der muss ledig auf starken Wind warten…!

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