EMDR ist ein psychotherapeutisches Behandlungskonzept, das vor allem bei Traumata eingesetzt wird. Es zeichnet sich durch hohe Wirksamkeit und schnelle Erfolge aus. Die EMDR-Therapeutin Sheila Deutinger erklärt im Interview, wie diese „Therapie auf der Überholspur“ funktioniert.

Sein: Was ist EMDR?

Sheila Deutinger: EMDR steht für Eye Movement Desensitization and Reprocessing und ist eine psychotherapeutische Methode, die seit rund 25 Jahren sehr erfolgreich bei verschiedensten Traumata eingesetzt wird. Sie wurde Ende der 80er Jahre von der Psychologin Francine Shapiro entwickelt. Bei einem Spaziergang bemerkte sie auf einmal, dass die Ängste, die sie aufgrund einer bei ihr diagnostizierten Krebserkrankung hatte, plötzlich verschwunden waren. Sie fand heraus, dass sich ihre Augen – aufgrund des Wechselspiels von Licht und Schatten der Sonnenstrahlen, die durch die Bäume fielen – ständig hin- und herbewegt hatten, während ihre Gedanken um die Krebserkrankung kreisten. Das Setting, das sie daraufhin entwickelte, sah so aus, dass der Klient mit seinen Augen den Hin- und Herbewegungen der Hand des Therapeuten folgt, während ein Teil seiner Aufmerksamkeit gleichzeitig auf einem inneren Konflikt liegt. Studien mit traumatisierten Vietnam- Veteranen, Missbrauchsopfern und Personen mit posttraumatischen Belastungsstörungen zeigten schnell die Wirksamkeit der Methode.

Wie funktioniert sie genau?

Nachdem mit dem Klienten der Traumainhalt besprochen wurde, um den es in der Sitzung geht, werden seine Ressourcen herausgearbeitet. Ressourcen sind aktuelle positive Lebensumstände, Naturverbundenheit, Freunde, ein Beruf, der Spaß macht, schöne Hobbys, die befriedigen. Ressourcen können auch gute Erfahrungen in der Vergangenheit sein, dass es also beispielsweise bei einem Menschen, der in einem belastenden Kontext aufgewachsen ist, eine oder mehrere Bezugspersonen gab, zu denen er Vertrauen hatte. Es ist auch möglich, sich solch einen positiven inneren Raum in der Phantasie zu kreieren und auszugestalten. Dieser Raum ist ein sicherer Rückzugsort für den Fall, dass der Klient, während er sich durch das Trauma bewegt, das Gefühl hat, er kann das gerade Erlebte nicht aushalten. Dann hat er die Möglichkeit, aus dem Prozess einfach auszusteigen und sich in diesen inneren Raum zu versetzen. Dadurch bekommt er zudem das Gefühl, dass er den Prozess steuern kann und den traumatischen Inhalten, die an die Oberfläche kommen, nicht hilflos ausgeliefert ist. Der Prozess selbst läuft dann ganz schlicht ab, indem der Klient mit seinen Augen dem Finger des Therapeuten folgt, der sich vor ihm hinund herbewegt.

Wie kann so eine einfache Bewegung so stark wirken?

Dazu muss man wissen, wie das Gehirn funktioniert. Normalerweise verarbeitet das Gehirn Erlebtes und legt es dann ab. Sind Erlebnisse zu überwältigend, überschreitet das die Fähigkeit des Gehirns, sie zu „neutralisieren“ – das Erlebte wird unverarbeitet im Gehirn gespeichert und durch ähnliche Situationen immer wieder unkontrolliert hervorgerufen. Dadurch kann es zu allen denkbaren Störungen und Krankheiten kommen.

Um Zugang zu diesen verdrängten Inhalten zu bekommen, arbeitet EMDR mit bilateraler Stimulation. Das bedeutet, dass beide Gehirnhälften durch die Augenbewegungen bei gleichzeitiger geistiger Fokussierung auf die belastenden Inhalte so stimuliert werden, dass die Gehirnhälften miteinander kommunizieren. Dabei können die traumatischen Inhalte, die oft jahrzehntelang in den neuronalen Netzwerken gespeichert waren – Traumata sind ja etwas Steckengebliebenes –, endlich verarbeitet und als „entschärft“ abgelegt werden. Die Energie entlädt sich während des Prozesses, dabei kommen auch oft Emotionen an die Oberfläche, Zittern kann auftreten oder der Klient macht irgendwelche Geräusche. Danach kann er auf einmal mit Abstand auf das Geschehen blicken. Die Geschichte als solche bleibt im Gehirn zwar erinnerbar, allerdings als neutral – durch begleitende Erkenntnisse manchmal sogar als positiv – bewertetes Geschehen ohne Schock energie. Indem das Gehirn sich neu organisiert und das vorher erschreckende Geschehen mit positiven Ressourcen verbindet, wird die Geschichte wie neu geschrieben und hat keine Macht mehr.

Wie sieht das konkret aus?

Wenn ein Mensch einen Autounfall hatte, unter dessen Folgen er heute noch leidet, geht er beispielsweise noch einmal bildhaft in dieses Geschehen hinein und stellt sich vor, wie er sich gefühlt hat, eingezwängt in dem Auto, voller Panik. Er erlebt das Geschehen energetisch noch einmal, bis alle darin enthaltene Energie abgeflossen ist. Eine derartige Einzeltraumatisierung ist meistens in drei bis fünf Stunden aufgelöst. Das Schöne ist: Als Therapeut muss ich in dem Prozess kaum intervenieren, weil das Gehirn von Natur aus ressourcenorientiert ist. Das heißt: Es hat wie auch der gesamte Körper Selbstheilungskräfte, die durch EMDR aktiviert werden. Wenn man also mit einem Klienten durch ein schweres Trauma geht, gibt es immer einen Punkt – und das passiert automatisch –, an dem es auf einmal hell wird in ihm und schöne Erinnerungen und Bilder auftauchen. Warum das so ist und welche Vorgänge im Gehirn dabei genau ablaufen, weiß man noch nicht. Die wissenschaftlichen Studien dazu sagen nur eins: dass EMDR funktioniert.

Beeindruckend fand ich die Einfachheit und Leichtigkeit des Zugangs zu alten, verschütteten Erlebnissen.

Ich bin selber auch immer wieder verblüfft, wie schnell und einfach es geht und wie unglaublich stark das menschliche Selbstheilungspotenzial ist.

Eignet sich EMDR für alle Arten von Traumata?

Bei manchen Leuten spricht EMDR nicht an, aber das sind sehr wenige. Am schnellsten wirksam ist es bei Einzeltraumata oder posttraumatischen Belastungsstörungen. Man kann es auch sehr gut einsetzen bei Angst – störungen, Depressionen, bei allen Zwangserkrankungen, sogar bei chronischen Schmerz zuständen, oder auch bei Tinnitus. Wenn ein Kind in einer als sehr traumatisch erlebten Umgebung aufgewachsen ist, sammeln sich viele verschiedene Traumata an, wodurch eine Behandlung natürlich länger dauert. Oft ist es auch sinnvoll, EMDR mit anderen Methoden zu kombinieren. Einzig für Menschen, die psychotisch und damit seelisch sehr instabil und für eine aufdeckende Therapie nicht geeignet sind, oder solche, die Psychopharmaka nehmen, ist EMDR kontraindiziert, weil man beim EMDR ja mit dem Gehirn arbeitet und auch Psychopharmaka in die Vorgänge des Gehirns eingreifen.

Was ich sehr interessant fand: Nachdem ich ein bestimmtes Trauma in meiner Kindheit durchgearbeitet hatte, entstand erst einmal einige Minuten lang so etwas wie ein leerer Raum. Dann bewegte sich die Energie eine Schicht tiefer zu einem Trauma, das eine ähnliche Charakteristik hatte wie das Trauma, das ich bearbeitet hatte, das aber früher in meiner Lebensgeschichte stattgefunden hatte. Wie ist das zu erklären?

So etwas passiert öfters, weil die grundlegenden Ursachen für ein Trauma – geschehen meist noch früher liegen. Stück für Stück geht es nach der Bearbeitung einer eher „oberflächlichen“ Situation in die Tiefe, wo weitere Ebenen darauf warten, geheilt zu werden. Das passiert von alleine, ohne dass man da viel Einfluss nehmen muss. Einfach dadurch, dass man die Erinnerung im Gehirn anregt, kommen andere und tiefer liegende Ursachen an die Oberfläche.

Dieses Sich-Bewegen durch verschiedene Schichten ähnelt ja durchaus manchen spirituellen Praktiken.

Auf jeden Fall unterstützt EMDR derartige Prozesse. Ich arbeite viel mit Leuten, die schon eine Menge spirituelle Erfahrung haben und lange in diesem Bereich unterwegs sind. Immer wieder erlebe ich, das gerade traumatisierte Personen, die sehr spirituell geschult sind, in eine der größten spirituellen Fallen laufen. Sie orientieren sich an einer Kernaussage der spirituellen Szene: „Sei mit dem, was ist.“ Da das oft nicht richtig verstanden und angewandt wird, nämlich so, dass die blockierte Energie sich lösen kann, bleiben sie sehr lange in einem negativen, depressiven Zustand und Hoffnungslosigkeit hängen. Dabei legen sie den Fokus viel zu sehr auf ihre Schwächen und das schwächt noch weiter. Hier ist es ganz wichtig, den Schwerpunkt erst einmal auf die Stärkung von Ressourcen zu richten, damit der Klient wieder aus diesem Loch herauskommt. Man weiß mittlerweile auch aus der Gehirnforschung: Depressionen verursachen so etwas wie einen Gehirnabdruck, ein vorgegebenes Muster, das sich immer wiederholt. Je länger eine Depression vorherrscht, desto schwieriger ist es, dort herauszukommen.

Auf der anderen Seite sind bei Menschen, die schon spirituelle Erfahrungen gemacht haben, die Bilder, die am Ende des Prozesses auftauchen, oft von spirituellen Inhalten durchdrungen, sie sehen beispielsweise Engel, spirituelle Meister oder lichtdurchflutete Landschaften.

Kann man so etwas in die „Normalwelt“ mitnehmen?

Durchaus, denn EMDR beschäftigt sich ja auch mit der Entwicklung von Ressourcen und Potentialentfaltung. Wenn jemand Prüfungsängste hat, dann kann er sich ein zukünftiges Bild der Prüfungssituation vorstellen und dieses Bild mit EMDR durch inneres bildhaftes Erleben verankern. Es ist möglich, diese bilaterale Stimulation auch ganz einfach für sich selbst zu Hause anzuwenden: Befindet man sich in einem positiven Zustand, klopft man sich wechselseitig mit beiden Händen links und rechts auf die Oberarme, und so festigen sich diese positiven Gefühle im eigenen System.

Das Interview führte Jörg Engelsing.

 


 

Tauchgang in die Seele: Selbsterfahrung mit EMDR

Ein Bericht von Jörg Engelsing.

Als Thema wählte ich ein Kindheitserlebnis (im Alter von rund sechs Jahren) mit meinem Vater, bei dem er vor mir stand, mich anbrüllte und mir so eine Angst einjagte, dass ich kaum atmen und zusammenhängend denken konnte, ihm nur wie gelähmt gegenüberstand und danach am ganzen Körper zitterte. Diese Situation war für mich immer ein zentrales Trauma meiner – erinnerbaren – Kindheit, das ich in verschiedensten Settings schon öfters bearbeitet hatte, so dass ich nicht erwartete, dort noch viel festgehaltene Energie vorzufinden.

Ein Trugschluss, denn es zeigte sich, dass dort immer noch eine Menge Angst und Schmerz gebunden war. Da ich Schwierigkeiten hatte, mich auf die Bewegungen der Finger vor meinen Augen und gleichzeitig auf die Bilder der traumatischen Situation zu konzentrieren, tippte die Therapeutin wechselseitig auf mein linkes und rechtes Knie, was den gleichen gehirnstimulierenden Effekt hat wie die Augenbewegungen. In der nächsten halben Stunde kam Schicht um Schicht von Angst, Schmerz und Tränen an die Oberfläche, anfangs noch sehr stockend und mit Widerstand, dann zunehmend leichter. Am Ende öffnete sich in mir ein angenehm weiter heller Raum.

Auch in der nächsten Sitzung wählten wir diese Kindheitserfahrung als Einstiegsszenario. Jetzt empfand ich die Situation viel weniger bedrohlich, die Tränen liefen sanfter, ich bekam in der Bildsequenz einen stabileren und gleichzeitig entspannteren Tauchgang in die Seele: Selbsterfahrung mit EMDR Stand. Schließlich konnte ich meinem Vater ohne Angst sagen, dass es mir leid tut, dass ich ihn bei seinem Mittagsschlaf gestört habe, und dass sein bedrohliches Verhalten mir Angst macht. In einer weiteren Klopfsequenz öffnete sich der Raum noch weiter und ich konnte ihm sagen, dass ich ihn liebe. Mein Vater war darüber so erstaunt, dass er mich sprachlos anstarrte. Dann war befreit, was sich im Moment verabschieden wollte. Ich konnte die Situation einfach gehen lassen und ließ mich tiefer fallen.

Eine Ebene tiefer

Dabei landete ich in einer Situation direkt nach meiner Geburt, als man mich auf einem Edelstahltisch einfach vergessen hatte. Ich lag da voller Panik, total orientierungslos und sagte mir: Ich will nichts mehr fühlen, ich will ein Eisblock sein (in der Charakteristik ähnlich der Situation des kleines Kindes, das seinem Vater wie gelähmt, im Schock und abgeschnitten von allen Gefühlen gegenübersteht). Schicht für Schicht von Angst, Widerstand und Schmerz kamen nun an die Oberfläche, anfangs ziemlich unangenehm und quälend anstrengend, weil da viel Widerstand und Abwehr war, doch dann konnte ich den Gefühlen immer leichter Raum geben. Ich spürte, dass dabei Verkrampfungen und Verspannungen in meinem Körper verstärkt wurden, die irgendwann anfingen zu vibrieren und sich dann langsam auf- und aus meinem Körper herauslösten. Dabei bemerkte ich immer wieder Schichten, die sich dem Auflösen der Spannung besonders stark widersetzten.

Dabei entstanden Gedanken, dass ich gar nicht will, dass es mir gutgeht. Ich bemerkte eine regelrechte Angst vor Freude und Glück, weil Leiden auf einer bestimmten Ebene meine Identität war. Wenn ich schon nicht in meiner Kraft und meinem vollen Potenzial bin, dann bin ich wenigstens in meinem Leiden etwas Besonderes. Lieber der König der Leidenden, bei dem nichts wirklich hilft, so viel er auch für seine Heilung tut, als unbedeutend und glücklich – einfach, weil sich dieser Persönlichkeitsanteil entspanntes Glücklichsein gar nicht vorstellen kann. Das zu erkennen und zuzulassen war erstmal ein Hammer, den ich verdauen musste. Auch die nächsten Sitzungen begannen immer wieder mit der schon bekannten Ausgangssituation, bei der aber sehr schnell das Gefühl von Liebe für meinen Vater und des eigenen Richtigseins auftauchte, so dass ich diese Kulisse schnell hinter mir lassen konnte. Als nächsttiefere Ebene zeigte sich die Geburt, deren traumatische Inhalte ich aber in den verbliebenen Sitzungen nur ansatzweise auflösen konnte.

Mein Fazit nach zehn EMDR-“Tauchgängen“: Es war erstaunlich, wie leicht ich an meine verdrängten Inhalte herankam. Geblieben ist vor allem eine entspanntere Beziehung zu meinem inneren Vater. Wenn ich mir jetzt das Bild meines Vaters vor Augen hole, spüre ich viel mehr Nähe und Liebe, eine Menge Trennendes und viel Abwehr haben sich verabschiedet.

Eine Antwort

  1. Viv
    EMDR - gut dargestellt (aber Frage zu Energien)

    Ein sehr schöner Artikel und eine sehr treffende Erklärung von EMDR! Nur der immer wieder auftauchende Hinweis auf „gestaute Energien“ lässt mich immer wieder fragen, woher man eigentlich weiß, dass es Energien sind und dass das Zittern davon kommt und nicht vielleicht von anderen Vorgängen im Körper, die mit der Wirkung von EMDR zu tun haben (weil es ja gespeicherte Traumainhalte anspricht). Mir kommt es so vor, als ob „alle“ TherapeutInnen diese Sichtweise der „gespeicherten Energie“ von Peter Levine übernommen haben, aber hat das mal jemand hinterfragt? Kein Zweifel, EMDR ist super! Nur kenne ICH solches Zittern auch im Zusammenhang mit Traumatherapien ABER nicht als Auflösung von gespeicherten Energien. Nun es ist ja Platz für viele Meinungen und – Hauptsache es hilft den PatientInnen.

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