Auf der Suche nach dem ursprünglichen Tantra

Tantra wird im Westen immer gleich mit Sexualität assoziiert, weil unsere Kultur an dieser Stelle ihre größten Defizite hat. Ursprünglich ist Tantra ein spiritueller Weg, der auch die Sexualität in ein ganzheitliches und göttliches Menschenbild integriert. Die essentiellen Erfahrungen der frühen Tantriker haben mich schon immer am meisten interessiert. Deshalb durchkämmte ich Berlin auf der Suche nach Antworten jenseits des Gängigen und aller Klischees.

 

Angefangen hatte alles mit einem Taschenbuch: „Tantra – die Kunst des bewussten Liebens“ von Charles und Caroline Muir schildert das altindische Menschen- und Körperbild. Ich war 24 und konnte kaum glauben, dass in meinem Umfeld davon scheinbar niemand etwas wusste – und machte mich auf die Suche. Bald konnte ich die Chakren, wie sie in den Büchern beschrieben waren, im eigenen Körper fühlen: Dieser Körper war nicht mehr nur Materie, sondern auch Energie. Und die konnte ich, wenn ich mich ganz entspannte, meinem Partner zuspielen und wieder zurückfließen lassen – zum Bauch, zum Herz und zum Hals. Ich sprach nicht darüber, sondern fühlte es, nur für mich. Erst später las ich, dass die moderne Physik längst damit aufgehört hatte, Materie von Energie zu unterscheiden – das fand ich beruhigend.

In Jennifer Lees und Thomas Meewes‘ „Zentrum für Chinesische Heil-Kampfkünste Berlin“ lernte ich taoistische Energiearbeit kennen. Ich war mit großem Abstand die Jüngste in der Frauengruppe, nahm’s aber mit Humor: Es schien mir an der Zeit, dass Frauen ihren Männern die menschliche Feinstofflichkeit nahe bringen, und je eher, desto besser. Taoistische Massagetechniken haben eine starke energetische Wirkung auf den Körper. Auch im Berliner „Spiritual Tantra Institut“ konnte ich eine solche Massage genießen, die mich augenblicklich in eine meditative Grundstimmung versetzte.

 

Tibetisches Tantra

Doch wie sieht es heute im Osten aus? Auf einer Chinareise gelang mir ein Abstecher nach Tibet. Der tantrische Buddhismus hat sich hier zu einem monastischen System entwickelt. Die spirituelle Vereinigung des weiblichen und männlichen Prinzips bezeichnet man symbolisch als Verschmelzung von „Weisheit und Methode“. Die jungen Mönche empfingen uns neugierig und offen, sie wirkten sehr lebendig und entspannt. Ob sie ihre tantrische Praxis mit imaginierten Partnerinnen ausüben oder ob manch einer doch eher Mönch auf Zeit ist, bleibt rätselhaft … Die frühen Tantriker, auf die die tibetischen Schulen sich heute noch berufen, lebten rebellisch und weder hierarchisch noch zölibatär.

Immer noch auf ihrer Spur besuchte ich einen Tantra-Yoga-Kurs in Berlin. Franz Robotka interpretiert tibetische Quellen und lehrt authentische Yogatechniken zur Kundalinierweckung, die sehr aktiv praktiziert werden und einen durchaus an Leistungsgrenzen bringen. Seine tantrische Partnerin Irene Kain vermittelt Tibetan Pulsing Yoga, das ebenfalls auf jahrtausende altem Wissen beruht und einen tranceartigen Entspannungszustand auslöst. Beides ergänzt sich optimal und kann paarweise praktiziert werden. Eine Erkenntnis traf mich hier mitten ins Herz: Jeder Tantriker geht letztlich seinen individuellen Weg. Tantrische Liebe kann nur funktionieren, wenn Offenheit und Mut zur Ergänzung bestehen.

Schon immer faszinierte mich auch die Fähigkeit der frühen Tantriker, Energien nicht nur gemeinsam zu erleben und zur Kundalini-Erweckung zu nutzen, sondern sie sogar einander über die Ferne zu übertragen. Deshalb weckte das „Kundalini-Reiki“ nach Mina Mohyi in Berlin meine Neugier. Ich befand mich also zur vereinbarten Uhrzeit in meiner Wohnung – und sie sich zehn Kilometer entfernt in ihrer. Ich war mir fast sicher, dass einfach gar nichts geschehen würde. Da half all mein paraphysikalisches Halbwissen von relativer Zeit und gekrümmtem Raum nichts. Aber dann fühlte ich ganz deutlich eine neuartige Energie durch meinen Körper fließen: sie war warm, kribbelnd und ein wenig elektrisch. Später lernte ich, diesen Energiefluss selbst auszulösen. In einem Standardwerk*) über tibetische Medizin und Tantra fand ich folgende Beschreibung des Phänomens:
„Der Hauptteil dieser Praxis besteht darin, ein von der Gottheit ausgehendes Licht zu visualisieren und es zu der Stelle, die geheilt werden soll, zu leiten oder einfach durch den ganzen Körper strömen zu lassen, damit es ihn reinigen und verwandeln kann.“ Ich war zutiefst berührt, wie sich der Kreis auf einmal schloss. Nach einem halben Jahr regelmäßiger Anwendung geschah eines Abends etwas Unbeschreibliches: Nach einer Reihe intensiver meditativer Empfindungen sah ich rotes Licht und hatte das Gefühl, mein Körper weite sich ins Unendliche. Um mich flirrte und pulsierte alles, und eine unsägliche Kraft stieg in mir auf. Sie stieg bis zum Herz, dann bis zum Kopf. Ich begriff auf einmal, weshalb das Tantra der Überwindung von Todesangst so viel Bedeutung zuschreibt: Mir war, als tauche ich in eine andere Dimension, in ein unendliches weißes Licht. Ich selbst wurde das Pulsieren, das Licht. Doch es wanderte nicht bis über meinen Kopf. Irgendetwas ließ mich vorher zurückkehren. Eigentlich schade. Danach war ich von Dankbarkeit erfüllt: Es war ein Vorgeschmack dessen, was Tantra eigentlich für mich ist: im Augenblick anzukommen, immer mehr zu fühlen und egofrei zu lieben.

*) Terry Clifford: Die spirituellen Geheimnisse Tibetischer Heilkunst, Ullstein Verlag 1996

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