Wir haben alle Warnungen in den Wind geschlagen. Inzwischen sind die wesentlichen Kipppunkte, die zu einer Regeneration der Erde hätten führen können, überschritten – es gibt kein Zurück mehr. Wir haben den Planeten sturmreif geschossen und können seinen Untergang wohl nur noch moderieren.

von Götz Eisenberg

Apokalyptische Brände auf der halben Welt und die verheerenden Sturzfluten im Westen Deutschlands haben das, was man mit einem verharmlosenden Begriff Klimawandel nennt, mal wieder aus der Abstraktion gerissen und der Wahrnehmung zugänglich gemacht – wenn die Erfahrungsfähigkeit der meisten unserer Mitbürger nicht bereits verkümmert wäre. Danach saßen Politiker und sogenannte Experten wieder in ihren Talkrunden und taten so, als sei noch etwas zu machen. Sie setzen auf technische Lösungen der durch die Technik produzierten Probleme. Der Teufel soll, wie man früher sagte, mit dem Beelzebub ausgetrieben werden.

Kipppunkte überschritten

Jahrzehntelang haben wir dem Raubbau an der Natur beigewohnt und von ihm profitiert. Alle früh- und rechtzeitigen Warnungen wurden in den Wind geschlagen. Inzwischen sind alle wesentlichen Kipppunkte überschritten, und es kann nur noch darum gehen, den Untergang zu moderieren und die schlimmsten Barbareien, die mit ihm einhergehen werden, zu verhindern. 200 Jahre industrieller Kapitalismus und Sozialismus haben gereicht, um den Planeten sturmreif zu schießen. Der amerikanische Anarchist Murray Bookchin hat darauf hingewiesen, dass wir mit unserer Wirtschaftsweise, die auf unablässigem Wachstum basiert und ohne dieses nicht existieren kann, als Leitbild ein Krebsgeschwür gewählt haben. Der Kapitalismus nistet sich im Gesellschaftskörper ein und zehrt ihn auf und aus. Dass er mit diesem Körper zusammen sterben wird, nimmt er billigend in Kauf. Das ist, wenn man so will, der Todestrieb des Kapitals.

Technik soll den Klimawandel aufhalten

Die Fixierung der Debatten auf den durch CO2-Ausstoß verursachten Klimawandel soll das Problem, vor dem wir stehen, in den Bereich des technisch-wissenschaftlich Machbaren rücken. Man hofft auf irgendeinen Geniestreich des Geo-Engineering, der das Problem der Treibhausgase lösen kann. Auch wenn er wahrscheinlich zu spät käme, benötigen wir einen viel weiter gehenden Wandel, der die weltweite Abholzung der Wälder, die Industrialisierung der Landwirtschaft, die Zerstörung der Habitate, das Ausplündern der Fischgründe und Grundwasserleiter, den Einsatz von Pestiziden und den Plastikmüll einschließt.

Das Elend der Wildvögel und der zum Schlachtvieh und zur Ressource denaturierten Tiere schreit zum Himmel. Der Mensch steht mittels kapitalfixierter Technik, Wissenschaft und Industrie „in der Natur wie eine Besatzungsarmee im Feindesland“, heißt es bei Ernst Bloch. Es ginge darum, diese Armee abzuziehen und unser Verhältnis zur Natur auf eine andere Grundlage zu stellen. Sie darf nicht länger lediglich als Ressource, als Rohstoff betrachtet werden. Wir leben, um mit dem Ethologen Claude Levi-Strauss zu sprechen, in einer zu „heißen“ Kultur: zu schnell, zu aufwendig, zu brutal, zu spitz, zu metallen, zu rechtwinklig.

Mehr Demut

Etwas von der Demut und Naturfrömmigkeit der traditionellen Indianer würde uns gut zu Gesicht stehen. Uns ist die Achtung vor der Natur weitgehend abhanden gekommen, und diese Kategorie kommt in den gegenwärtigen Debatten viel zu kurz. Die hinter uns liegenden eisigen neoliberalen Jahrzehnte haben die Menschen selbst eisig werden und abstumpfen lassen. Man konnte diese Achtung vor der Natur am ehesten noch bei den Aktivisten im Dannenröder Forst antreffen, die ein Jahr lang für den Erhalt eines jahrhundertealten Waldes gekämpft haben, bevor die Staatsmacht sie gewaltsam aus ihren Baumhäusern vertrieb.

Wer einmal einen sogenannten Harvester bei seinem Zerstörungswerk beobachtet hat, wird verstehen, was nach der Räumung in den Aktivisten vor sich ging. Im Minutentakt verwandelte dieser lebende Bäume, für deren Rettung sie gekämpft hatten, in Totholz und Rohstoff für die Möbel- und Papierindustrie. Der niedergewalzte freie Raum wird zubetoniert, damit Lkw und SUVs schneller an ihr Ziel kommen, das meist vollkommen sinnlos ist und ebenfalls der weiteren Naturzerstörung dient. Der Harvester symbolisiert für mich den Krieg, den wir der Natur erklärt haben.

Kipppunkte im Inneren

Auch im Inneren des Menschen sind Kipppunkte überschritten. Was in den ökologischen Debatten so gut wie gar nicht thematisiert wird, ist die kapitalistische Zurichtung der inneren Natur des Menschen, die wirkliches Glück selten, wenn nicht unmöglich macht. Wer es in der vom Markt- und Konkurrenzprinzip beherrschten bürgerlichen Gesellschaft zu etwas bringen will, muss über die für diesen Erfolg nötigen egoistischen und aggressiven Eigenschaften verfügen. Man muss sein Herz verschließen gegen Mitleid und andere weiche Regungen und bereit sein, die Ellenbogen auszufahren und über Leichen zu gehen. Mangel an Empathie ist kein Produkt einer individuellen Fehlentwicklung, sondern ein Strukturmerkmal einer Gesellschaft, die sich als Ganze der Markt- und Kapitallogik unterworfen hat.

Die prometheische Wut, mit der die Menschen gegen die Natur zu Felde ziehen, wurzelt in der Feindschaft des bürgerlich-kapitalistischen Menschen gegen sich selbst, seine eigene innere Triebnatur. Selbst- und Fremdbeherrschung sind wie zu einem Zopf verflochten, oder anders gesagt: Das, was man in sich selbst verbissen niederhält, wird auch draußen bekämpft und niedergehalten. Wer einmal Zeuge geworden ist, mit welchem Furor Eigenheimbesitzer gegen das Unkraut in ihren Vorgärten vorgehen, Hecken beschneiden und den Rasen trimmen, dem wird sofort klar, dass hier noch ganz andere Triebe beschnitten und gestutzt werden. Wenn es draußen friedlicher zugehen soll, müsste auch innen abgerüstet werden.

Wenn wir trotz dieser Lage weiterleben wollen, werden wir etwas von der Haltung jenes Opernsängers benötigen, von dem bei Alexander Kluge einmal die Rede war. Befragt, wie er es fertigbringe, im ersten Akt einer Oper, die im fünften Akt tragisch endet, auch bei der 81. Aufführung noch Optimismus auszustrahlen, antwortet er: „Im ersten Akt kann ich nicht wissen, wie die Oper im fünften Akt ausgeht.“

Der Text erschien bereits im Gießener Anzeiger vom 1. September 2021 (https://www.giessener-anzeiger.de/amp/lokales/stadt-giessen/nachrichten-giessen/der-harvester-als-symbol_24390487 ) 

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