Interview mit Daniel Herbst

 
Warum leben wir in einer so widersprüchlichen und wenig glücklichen Welt? Ist es uns als Menschen überhaupt möglich, selbstbestimmt und an persönlichen Werten orientiert zu handeln – oder sind wir letztendlich nur das Resultat der vorherrschenden Bedingungen? Um diese und weitere Fragen zu klären, führten wir ein Gespräch mit dem Hamburger Satsang-Lehrer Daniel Herbst. Die Fragen formulierte SEIN-Redakteur Shako M. Burkhardt.

Sein: Wie soll denn verantwortliches, an Werten ausgerichtetes Handeln möglich sein, wenn wir, wie du und andere Satsanglehrer sagen, in unseren Handlungen und unserem Bewusstsein doch absolut unfrei, konditioniert und ohne jede Entscheidungsmöglichkeit sind?
Daniel Herbst: Kann der, der du zu sein glaubst, anders reagieren als er es momentan tut? Hast du jemals wirklich die Möglichkeit gehabt, dich anders zu verhalten, als du dich verhalten hast? Wärest du dadurch nicht zu jemand anderem geworden? Die Frage ist: Wer ist unfrei und konditioniert? Welcher Aspekt deines Wesens? – Dem Salz steht es nicht frei, nach Zucker zu schmecken und umgekehrt. Unsere Erfahrungen sind das Salz und der Zucker unseres Lebens. Daran machen wir alles fest. Neben der Genetik sind es unsere Erfahrungen, die uns prägen. Und zum gegenwärtigen Zeitpunkt steht es dir nicht frei, die Dinge anders zu sehen, als du sie siehst. Alles kommt auf die Perspektive an. Das Kennzeichen einer identifizierten Person besteht darin, dass sie ihre Perspektive für angemessen und richtig hält.

Sein: Wieso steht es mir nicht frei? Und was würde denn einen Perspektiv-wechsel ermöglichen?
Daniel Herbst: Willst du etwa sagen, dass du dir deine Perspektiven ausgesucht hast? Wir suchen sie nicht aus, sie stellen sich uns vor. Nur deshalb können wir z.B. glauben, ungeliebt, unterprivilegiert, von unserem schöpferischen Potential abgeschnitten etc. zu sein. Wenn es dir freisteht, dann wechsele die Perspektive jetzt sofort und sei endlich mit deinem Leben einverstanden – sei glücklich! Es geht hier um dich, nur um dich. Es ist niemals um jemand anderen gegangen. Bevor du die Welt verstehen und heilen willst, verstehe dich. Das wird dich heil machen und dir all deine Fragen nehmen. Denn dann kannst du selber sehen.

Sein: Wenn aber alles, auch unsere innersten Prozesse, von vorne bis hinten konditioniert und festgelegt sind, wo soll denn da die Lücke herkommen, um dort auszusteigen?
Daniel Herbst: Solange ich mich mit meiner Geschichte verwechsele und versuche, sie zu erlösen bzw. ihr durch eine vorgestellte bessere Zukunft zu entkommen, bin ich vollkommen unfrei und nicht in der Lage, mir relevante Fragen zu stellen. Relevante Fragen sind Fragen, die mich an die Grenzen der mir bekannten Welt führen. Dadurch wird mir nach und nach klar, dass meine Sichtweisen die Grenzen meiner Wirklichkeit bilden. Dann kann eine Lücke entstehen. Die Lücke zwischen mir als Präsenz und mir als konditioniertem, zutiefst verängstigtem und an die Umstände gebundenem Wesen. Einer Ameise steht es nicht frei, sich selbst zu hinterfragen. Sie lebt einfach das Leben einer Ameise, und das war’s dann. Damit hat sie kein Problem. Aber wir, wir haben mit dem Menschsein enorme Probleme. Es müssen also erst mal Probleme auftauchen, ernsthafte Probleme. Der Boden der Selbsterkenntnis ist das Leiden – oder extreme Intelligenz. Das Leiden stellt sich dabei ganz von alleine ein. Einfach gesagt: Solange das Leiden nicht groß genug ist, wird niemand bereit sein, das ihm bekannte „Ich“ – seine Identifikationen – anzuzweifeln. Dieser Prozess geschieht wirklich von allein. Wer intelligent genug ist, das zu erkennen, braucht es nicht zum äußersten kommen lassen: Er kann jetzt damit anfangen, sich selbst zu erforschen.

Sein: Darüber hinaus haben wir keinen freien Willen und keine Entscheidungsmöglichkeiten? Auch nicht, uns z.B. für das „Gute“ oder „Böse“ zu entscheiden? Was wäre denn dann das „Böse“, wenn wir gar nichts zu entscheiden hätten?
Daniel Herbst: Erkennst du, wie grotesk diese Frage ist? Und doch – sie trifft genau den Punkt! Kann ich mich aus freien Stücken für das Böse entscheiden? Muss ich nicht vollkommen krank sein, um mich am Bösen zu berauschen? Hat sich Adolf Hitler entschieden, zum größten Verbrecher der Menschheitsgeschichte zu werden? Das ist die eigentliche Frage. Hat er sich entschieden, gegen die Schöpfung zu verstoßen, oder konnte er nicht anders? Adolf Hitler war sich selbst gegenüber vollkommen unbewusst und damit fremdbestimmt. Wenn er seinen Bewusstseinszustand auch nur einmal ernsthaft in Frage gestellt hätte, wäre es ihm nicht möglich gewesen, zu tun, was durch ihn getan worden ist. Seine Fremdbestimmung bestand darin, dass er seinen Gedanken sklavisch gefolgt ist. Sie haben ihn gezwungen, zu Hitler zu werden. Dahingegen hat Mahatma Gandhi zweifelsfrei erkannt, dass es seine Bestimmung ist, sich nicht mehr bestimmen zu lassen. Weil sich Mahatma Gandhi nicht mehr mit Gandhi verwechselt hat, ist er zu einem Mahatma, einer großen Seele, geworden. Nur die große Seele, das Bewusstsein selbst, ist von jeder Definition frei. Solange ein Bewusstseinszustand nicht durchschaut worden ist, wird sich derjenige, dem er erscheint, mit ihm verwechseln und ihm entsprechend handeln. So gesehen ist jede Person ein Sklave ihrer Einbildungen. Also wieder, es geht um dich! Wer bist du? Und wozu brauchen wir denn eigentlich einen eigenen Willen? Doch nur, um den eigenen Vorteil durchzusetzen. Das lässt uns kämpfen, das macht alles so schwer. Jeder ist auf seinen Vorteil bedacht. Und heimlich hat jeder von uns Angst davor, die Nachteile am eigenen Leib zu erfahren. Darum mühen wir uns ab, darum rennen wir, darum die Selbstverleugnung. Was es braucht, ist Vertrauen. Ich spreche nicht davon, dass wir anderen Menschen blindlings vertrauen sollten – es geht nicht darum, zu folgen. Ganz im Gegenteil. Es geht darum, dem Leben selbst unmittelbar zu vertrauen. Das Vertrauen vertraut sich selbst so sehr, dass es sich selbst in den Krieg und ins Elend gebiert. Selbst im Luftschutzbunker sitzen kleine Engel. Da sitzt die Unschuld selbst. Wenn wir das erkennen, dann…

Sein: Aber wie kann das „Böse“ „gut“ werden, wenn nicht durch eigenen Willen, durch eigenes Erkennen?
Daniel Herbst: Einfach gesagt: Der Teufel ist ein zutiefst unbewusstes, zutiefst ignorantes Gespenst. Er kann nur durch Annahme überwunden werden. Wer seine Anerkennung durch grausame Taten erhält, ist schon in der Hölle angekommen. Das Böse kann nicht durch eigenen Willen gut werden, weil es der Wille des Bösen ist, etwas eigenes zu sein. Die Liebe kennt das Böse nicht und will sich auch nicht auf Kosten von etwas „anderem“ durchsetzen. Aber alle angenommenen Identifikationen stehen der Liebe im Weg. Wo die wahre Liebe nicht erfahren wird, ist Leid. Die Phase der Identifikation ist ein Prozess, in dem wir dem Leid und dem Bösen begegnen müssen. Durch jede Identifikation soll uns klargemacht werden, wer wir nicht sind. Ist das erkannt, durchdringen wir uns selbst. Schließlich findet die Selbsterkenntnis ganz von alleine statt – dann ist da niemand mehr, der sich mit irgendetwas verwechseln könnte. Aber wer das Gefühl, ohnmächtig zu sein, nicht ertragen kann, neigt dazu, den Einflüsterungen des Bösen zu folgen. Darum heißt es im Vater unser: „Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen.“ Um es so einfach und unpathetisch wie möglich zu sagen: Wo ein freier Wille ist, ist Polarität, ist Konflikt, ist Angst, Krieg und Habsucht. Diese Erfahrung musste die Menschheit machen. Das gilt es zu erkennen. Solange es nicht erkannt wird, wird es weitergehen wie bisher. Es ist praktisch, Gott dafür anzuklagen. Doch Gott ist zunächst nichts weiter als ein Angebot. Das andere wird vom Teufel gemacht. Er bietet dir den freien Willen an und sagt, dass du tun kannst, was dir von Vorteil ist – er hält den Nachteil des anderen also für legitim! Statt uns über das Leben zu wundern und es dankbar anzunehmen, werden wir von klein auf gedrillt und auf den Existenzkampf vorbereitet. Unser Mantra heißt „Ich“ – dieser „Ich, ich, ich“- Singsang begleitet uns vom Aufwachen bis zum Schlafen- gehen. Da kann kein Gott was dran ändern… Die Wahl zwischen Gut und Böse hat den Menschen krank gemacht. Da-rum heißt es wiederum im Vaterunser: „Dein Wille geschehe.“

Sein: Andererseits wird uns doch gerade in „spirituellen Kreisen“ oft genau das Gegenteil erzählt: wir seien die alleinigen und verantwortlichen Schöpfer von allem, was uns im Leben begegnet – sei es be- wusst oder unbewusst – und daher quasi dazu verpflichtet, unseren Willen entsprechend zu kultivieren und auszurichten …
Daniel Herbst: Ja, die spirituellen Animateure erzählen heute dies und morgen das. Wenn jemand vorgibt den Weg ins Himmelreich zu kennen, gibt es sofort Unzählige, die bereit sind, ihm zu folgen. Wünsche und Hoffnungen verkaufen sich eben besser als die Wirklichkeit. Eben wollte ich noch zum Avatar werden, jetzt klopfe ich mich frei und morgen plappere ich einem Satsang-Lehrer nach, dass ich unberührbar und jenseits von Freude und Leiden bin. Das ist wie in einem Supermarkt – da bleibt der Suchende ein Konsument. Und eben darum geht es – das Konsumieren von spirituellen Konzepten hinter sich zu lassen. Hallo, es geht darum aufzuwachen! Es geht um dich. Alles andere kann warten.

Sein: Gibt es für dich einen „höchsten“ Wert? – Oder: mal angenommen, du hättest die Gelegenheit, im Rahmen des viel diskutierten Ethik-Unterrichtes eine Klasse zu unterrichten – welche „Werte“ würdest du den Schülern da vermitteln wollen? Gibt es für dich „Lebensregeln“, Gesetze, die zu beachten du für angemessen oder empfehlenswert hältst?
Daniel Herbst: Ich würde den Schülern keine von irgendwelchen Autoritäten vorgegebenen Werte vermitteln wollen, sondern sie vor allem dazu einladen, sich auf das „Experiment Menschsein“ einzulassen – d.h. wirklich für sich selbst in Erfahrung zu bringen, was es bedeutet, ein Mensch zu sein. Ich würde die Schüler dazu animieren, mit ihren eigenen Empfindungen in Berührung zu kommen und sich bewusst zu werden, dass die Tatsache des Empfindsamseins nicht nur auf sie selbst, sondern auf jeden Menschen zutrifft und dass dies das Element ist, das die Menschheit verbindet. Es geht nicht darum, nach den Antworten anderer Menschen zu leben, sondern die eigenen zu finden. Und dafür ist es erforderlich, dem Leben äußerst aufmerksam zu begegnen. Deshalb liegt es mir fern, einen allgemeinverbindlichen Moralkodex vorzuschlagen. Es ist nicht damit getan, einen Kodex aufzustellen, wenn wir nicht in der Lage sind, unter allen Umständen danach zu leben. Wenn wir uns bewusst wahrnehmen, brauchen wir keinen Moralkodex mehr. Regeln sind doch lediglich dazu da, das Chaos zu regeln. Statt uns das einzugestehen und wieder von Angesicht zu Angesicht zu leben, versuchen wir uns von Gesetzen und Vorschriften schützen zu lassen. Der unmittelbare Kontakt ist die Voraussetzung für Liebe. Sie ist es, die die Existenz wertvoll macht. Wahre Liebe ist ein immenser Wert. Sie ist von allen Besitzansprüchen frei und kennt kein Brauchen. Der höchste Wert ist, dass wir anwesend, also seiend sind. Das gilt es zu realisieren. Darum: Höre auf zu glauben, folge nicht, sondern werde dir bewusst. Das ist die Einladung des Lebens an dich. Hast du schon mal daran gedacht, sie anzunehmen?

Hinterlasse einen öffentlichen Kommentar

Deine Email Adresse wird nicht veröffentlicht.

*